Archiv für den Monat: März 2019

Ohne zu lügen leben… einige Überlegungen

Die Fastenaktion der evangelischen Kirche 2019 heißt „Mal ehrlich! 7 Wochen ohne Lügen“. Zwar bin ich aus Überzeugung nicht Teil einer christlichen Kirche, aber die jährlichen Fastenaktionen haben mir schon häufig gefallen. So auch dieses Mal. Ich denke, es lohnt sich, sich selbst beim Wahrhaftig- und beim Unwahrhaftig-Sein zu beobachten.

Die erste Frage, die ich mir stelle, ist die danach, wie weit ich mir selbst treu bin. Ich überlege, wie häufig ich etwas, das mir wichtig ist, etwas, das zu meinen Werten gehört, verrate. Ich überlege, wozu ich das tue und welche Folgen das hat.

Nehme ich eine Einladung an, obgleich ich die einladende Person in Bezug auf bestimmte Handlungen nicht schätze? Tue ich das, weil ich mir davon Vorteile erwarte? Ich wäre damit unehrlich zu mir, zu der einladenden Person und zu den anderen Gästen. Ist es der erhoffte Vorteil wirklich wert, zu lügen?

Ich erinnere mich, dass ich als Kind höflich die Hand geben sollte, knicksen und nett sein, zu Tantes Geburtstag mitgehen. Ich erinnere mich, es war egal, wie ich zur Tante stand. Es hatte keine Rolle zu spielen. Nun bin ich schon lange groß. Für keine Vorteile der Welt möchte ich Zeit, Geduld und Freundlichkeit geben, wo ich nicht ehrlich fühle, dass ich es will. Wo ich es noch tue, will ich es lassen.

Ich schaue, wo ich mich nicht belügen will – und welche Folgen das haben kann. Beispielsweise möchte ich nicht zurückweichen, wenn ich ein bestimmtes Handeln eines Gegenübers nicht akzeptieren will. Womöglich will ich deshalb, wenn keine Einigung erzielt werden kann, den Kontakt abbrechen. Womöglich will ich Konsequenzen in Aussicht stellen. Das kann beim Gegenüber zu Zorn, Ablehnung oder sogar zu Rachehandlungen führen. Ich schaue genau hin, ist mir die Ehrlichkeit in diesem Fall das Risiko wert?

Ein Mensch schlägt in der U-Bahn seinem Kind ins Gesicht. Eine Freundin schlägt ihr Kind, wenn es keine Ruhe gibt. Ein Kollege schlägt einen Jugendlichen, der ihn angreift – es hätte andere Möglichkeiten gegeben. Halte ich den Mund? Das will ich nicht mehr tun!

Manchmal belüge ich mich um des „lieben Friedens willen“. Ich tue oder sage etwas, ich unterlasse oder verschweige etwas, damit es keinen Streit gibt. Damit begehe ich einen kleinen Verrat. Und ich denke auch, dass solcherart Frieden ein fauler Frieden ist, dass dies nicht zum Guten führt.
Es kann auch sein, dass es sich einfach um Feigheit handelt, wenn ich gegen meine Bedürfnisse oder Werte handele. Ich fürchte die Folgen. Ich will genauer hinschauen: Was ist mein Motiv hinter meinem Verhalten?

Wenn ich jemanden wahrhaftig schützen will, der vielleicht sehr verletzlich ist, wenn das Aussprechen einer Wahrheit nur dem Recht-Haben-Wollen dient, wenn es Gefährdungen für Leib und Leben gibt – dann darf die Lüge sein. Bevor ich dies als Argument mir selbst gegenüber anführe – lieber zweimal nachdenken, ob ich gerade ehrlich zu mir bin!

Zum Schluss will ich noch eine Überlegung darüber anstellen, wie gut es sein kann, ehrlich zu sein. Es nimmt doch recht viel seelischen Druck, sich und anderen eine Lüge zu ersparen. Es kann so ein gutes Gefühl sein, einen Fehler einfach zuzugeben, eine unberechtigt erhaltene Belohnung abzuweisen, etwas versehentlich in den Besitz Gelangtes zurückzugeben! Es macht das Leben einfacher!

In diesem Sinne: Schauen Sie mal, wo Sie in dieser Woche etwas mehr Wahrhaftigkeit zulassen wollen!

Herzlich (!) Ulrike Roderwald

Einem Menschen Dankbarkeit zeigen

Heute möchte ich zu Ihnen etwas über Dankbarkeit schreiben. Beginnen werde ich mit einer Übung von Irvin D. Yalom, In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet. Darin schreibt er in Kapitel 5 – Todesangst durch Beziehung überwinden und den „Welleneffekt in Aktion“ über die Dankbarkeit folgendermaßen: „Viel zu häufig wird die Dankbarkeit dafür, dass ein Mensch einflussreiche Wellen in die Welt ausgestrahlt hat, nicht zu seinen Lebzeiten ausgedrückt, sondern findet nur in seinem Nachruf Erwähnung. Wie oft hat man sich bei Begräbnissen schon gewünscht (…), die Toten möchten anwesend sein, um die Nachrufe und Dankbarkeitsbezeugungen zu hören?“

Yalom hat bei einem Workshop von Martin Seligmann dazu eine Übung gefunden, die ich als sehr wertvoll einschätze, zunächst einmal für uns selbst und unser Bewusstsein über die guten Gründe für Dankbarkeit. Der letzte Teil der Übung erfordert schon etwas Mut, denn in unserer Gesellschaft ist es ein ungewöhnlicher Schritt, so zu handeln. Ich meine, es könnte einiges in unserer Zwischenmenschlichkeit zum Guten verändern, wenn wir dergleichen häufiger wagten!

Denken Sie an jemanden noch Lebenden, gegenüber dem Sie eine große Dankbarkeit verspüren, die Sie nie ausgedrückt haben. Verbringen Sie zehn Minuten damit, dieser Person einen Dankesbrief zu schreiben, und dann tun Sie sich mit jemandem […] zusammen [die / der dies auch so getan hat, Erg. von mir], und jeder von Ihnen liest seinem Brief dem anderen vor. Der letzte Schritt ist, dass Sie dieser Person irgendwann in der nahen Zukunft einen persönlichen Besuch abstatten und ihr diesen Brief laut vorlesen.“

Wenn Sie dies lesen und Sie sich Gedanken machen von der Art, etwa „So jemanden kenne ich gar nicht!“ – dann bitte ich Sie, sich etwas mehr Zeit zu geben bei der inneren Suche.

Wenn Sie denken, dass Sie sich das nicht trauen mögen zu tun, dann schauen Sie bitte gründlich nach, was Sie hindert, sich zu überwinden und was Ihnen helfen könnte, es doch zu tun!

Wenn Sie denken, dass Sie alle Dankbarkeit an andere Personen schon ausgedrückt haben, dann, ja dann bitte ich Sie, zu prüfen, ob Sie sich genügend bei sich selbst bedankt haben. Ich bin fast sicher, da finden Sie reichlich Stoff zum Briefeschreiben!

Gute Erfahrungen damit wünsche ich Ihnen!

Ulrike Roderwald

Experimente (5)

Gedanken über “Ärger” und wieder ein Experiment von Norbert Schermann

Heute möchte ich mit Ihnen über “Ärger” nachdenken, und zwar über den Ärger, den Sie sich selbst bereiten. Ja, doch, die meisten von Ihnen dürften das immer mal wieder tun. Auch ich entscheide mich von Zeit zu Zeit, mich zu ärgern, obwohl ich weiß, wie sinnlos das ist. Der Ausdruck ist ja schon bezeichnend: Ich ärgere mich
Es ist nicht das Wetter, nicht das Computerprogramm, nicht der Nachbar, die Sie ärgern – Sie können das ganz alleine. Das Wetter ist einfach das Wetter, das Computerprogramm wurde zum Zeitpunkt der vorläufigen Fertigstellung – es wird ja normalerweise ständig überarbeitet – freigegeben, ohne dass ein Unterprogramm, Ärger zu erzeugen eingeschmuggelt wurde, der Nachbar hat seine persönlichen Beweggründe für sein Handeln. Ich will nicht ausschließen, dass manchmal einer unterwegs ist, anderen Ärger zu bereiten. Ob er damit Erfolg hat, liegt ausschließlich am Adressaten – also möglicherweise bei Ihnen.
In Diskussionen darüber reagiert manchmal jemand ärgerlich. “Aber es ist doch mein Nachbar, der mich geärgert hat! Warum schneidet er diesen einen Ast nicht ab, obwohl ich Ihn schon so oft gebeten habe?” Ist es wirklich so? Er ärgert Sie? Hat er diese Macht? Denken Sie kurz nach – er hat sie doch glücklicherweise nicht! Sie allein entscheiden, ob Sie sich ärgern wollen oder eben nicht!
Damit rede ich selbstverständlich nicht davon, dass Sie nun beginnen sollten, sich alles schön zu reden. Nichts von dem, das nicht Ihren Vorstellungen und Werten, Ihren Zielen und Ihrem Geschmack entspricht, müssten Sie gut finden, um sich nicht zu ärgern. Sie finden es nicht in Ordnung, was jemand tut? In vielfältiger Weise können Sie reagieren, ohne sich dazu ärgern zu müssen. Klare Grenzen setzen, Konsequenzen in Aussicht stellen, den Ast selbst absägen – alles ist machbar ohne dieses überflüssige Gefühl, mit dem Sie sich selbst schädigen. Ärger vermiest Ihnen die Laune, Dauer-Ärgerlichkeit raubt Ihnen die Gesundheit. Wenn Sie einfach nur nicht zufrieden sind, mit dem, was passiert, haben Sie den besseren Startpunkt zum Finden einer Lösung!
Es gibt mehr als eine Möglichkeit, darin besser zu werden! Es hilft in jedem Fall, sich von der Idee zu verabschieden, alles und jeder müsse sich nach unseren Wünschen und Vorstellungen verhalten. Gar nicht so einfach, aber machbar!
Ich möchte Ihnen nun das Organisationsethische Experiment #63 von Norbert Schermann vorstellen, das Herstellen einer Perspektivwechselmaschine! Es beginnt damit, dass Sie sich zwei verschieden farbige Blätter Papier nehmen und dann jeweils den Mittelkreis ausschneiden.
(Anmerkung von mir: Für die wenig Bastelgewohnten: Wenn Sie einen Zirkel besitzen, schlagen Sie damit den Kreis, sonst nehmen Sie für den Umriss etwas aus dem Haushalt, das passt. Falten Sie dann das Blatt in der Mitte und schneiden den Halbkreis aus, so ist es einfacher. Wozu dieser Aufwand, habe ich erst gedacht, aber nach einiger Überlegung: Damit stimme ich mich ein, ich nehme mein Tun ernst und gebe ihm Zeit.)
~ Legen sie die beiden Kreise mit einigem Abstand zueinander auf den Boden.
~ Überlegen Sie eine Situation, in der Sie mit jemandem nicht einer Meinung sind.
Formulieren Sie dazu eine Frage, der Sie nachgehen möchten.
~ Stellen Sie sich nun auf einen der Kreise und machen Sie sich Ihre Meinung bewusst.
~ Wechseln Sie auf den anderen Kreis und nehmen Sie die Beweggründe, die Perspektive,
die Argumente und sonstigen Gedanken der anderen Person wahr.
~ Schauen Sie von da aus auf Ihren eigenen Platz und nehmen Sie wahr, wo die
Unterschiede sichtbar und spürbar werden.
~ Wiederholen sie diesen Ablauf mehrmals und beobachten Sie, wie sich Ihre Perspektive
zur Ausgangsfrage verändert.

Viele gute Erkenntnisse wünsche ich Ihnen!
Bei Norbert Schermann bedanke ich mich für seine Anregungen in seinem Buch!

Ulrike Roderwald



Experimente (4)

Gar nicht selten kommt in meinen Therapiestunden zur Sprache, wie belastend das Lernen in der Schule von der Klientin oder dem Klienten erlebt wurde. Bis in eine erfolgreiche Lebensgeschichte hinein wirkt manchmal nach, was damals als ständige Niederlage erlebt wurde.
Im Gespräch stellen wir fest, dass das Selbstbild scheinbar festklebt an den alten Erfahrungen. Sie sind offenbar nicht vergangen, jedenfalls nicht für die oder den Leidenden heute.
Da passt für mich wieder ein kleines Zwischenspiel aus Norbert Schermann: Organisationsethische Experimente, 125 Anregungen für Führung, Ausbildung und Beratung, Books on Demand Norbert Schermann 2018.
Dieses Mal wähle ich das Organisationsethische Experiment #58.
Auch für diejenigen unter Ihnen, die in der Schule Einsen eingeheimst haben, die vom Lehrer oder der Lehrerin Lob geerntet haben: Prüfen Sie genau, was das für Sie damals bedeutet hat und heute womöglich noch immer bedeutet, womöglich nicht immer zum Guten für Sie!
Schermann schlägt vor, sich 10 Minuten Zeit zu geben und zu überlegen, wie sich im Lauf des Lebens die Art, etwas zu lernen, verändert hat. Sie sollten eine Zeitlinie aufzeichnen mit bestimmten Markierungen für das Einschulungsalter, 13 Jahre, 18 Jahre, 29 Jahre und den heutigen Tag. Ich möchte hinzufügen: Alle lerngeschichtlich wichtigen Ereignisse, zum Beispiel ein Schulwechsel, einen Klassenwechsel und alles, was Ihnen bedeutsam erscheint, tragen Sie ein! Es wird vielleicht mehr Zeit nötig sein als 10 Minuten.
Dann nähern sie sich jedem Lebensalter einzeln an mit folgenden Fragen:

Mit welchen konkreten Erinnerungen und mit welchen Gefühlen ist Ihr Lernen mit dem jeweiligen Zeitpunkt verbunden?

Welchen Bewegungsimpuls spüren Sie, wenn Sie an diese bestimmte Zeit denken? Bewegt es Sie in Richtung Lernen oder zieht es Sie woanders hin oder lassen Sie sich hiervon gar nicht bewegen?

Halten Sie das Wichtigste hiervon schriftlich fest und prüfen Sie, womit Sie sich beim Lernen heute verbinden und schauen Sie genau auf die Unterschiede zu den früheren Zeitpunkten.