Besuch bei der alten Dame

Die alte Dame wird in den nächsten Tagen 92. Sie lebt im Pflegeheim. Zuhause ging es nicht mehr. Im Pflegeheim ist nicht alles Gold, aber besser als zuhause. Warum? Sie hat immer Menschen um sich herum, die sich je nach Bedarf kümmern oder sie in Ruhe lassen. Sie erlebt selten Zeitdruck. Der ambulante Pflegedienst war immer unter Zeitdruck, die Angehörigen oft.

Langsam hatte sich die Zeitverwirrtheit eingeschlichen ins Leben der alten Dame. Unbemerkt zunächst. Dann überschlugen sich die Veränderungen, das Umfeld kam atemlos kaum hinterher.

Nun ist die nächste Stufe eingetreten. Die Sprache wird ersetzt durch Bewegungen, nachvollziehbare ja, und bisher für das Umfeld nicht verstehbare auch. Das Beiseiteschieben der Haarsträhne funktioniert, auch das Kratzen an juckenden Stellen. Manchmal reagieren die Augen auf Geräusche, werden wacher für einen Moment.

Die alte Dame ist erschöpft. Der Körper ist erschöpft. Was ist mit ihrem Geist? Wie sollen die Umstehenden das wissen?

Wird sie etwas gefragt, ist Abwehr zu spüren, Fragen kann sie nur noch wenige beantworten. Möchtest Du etwas trinken? Ein Nicken. Wie geht es Dir? Eine zu schwierige Frage? Der Kopf geht zur Seite. Lass doch! Heißt es das?

Die Gliedmaßen sind unruhig, ungerichtet in ihrer Bewegung und haben noch Kraft, wenn die alte Dame beunruhigt ist. Was ist los, was wollt Ihr? wenn es von dem Rollstuhl zurück ins Bett geht. Angst zu stürzen?

Die Gliedmaßen beruhigen sich, wenn eine Hand gefasst wird, da ist ein Kontakt. Der ganze Mensch beruhigt sich. Außer der Arm. Er bewegt sich im Takt erst vor und zurück, dann von rechts nach links und links nach rechts, manchmal machen die Finger kleine Extradrücke.

Eine Sprache, die das Umfeld nicht versteht. Außer zu „lauschen“ gibt es nichts zu tun.  Schwer für die, die gewohnt sind, dass man immer etwas tun kann.

Einfühlung ist schwierig, wenn es um einen Zustand geht, den man selbst nicht annähernd so ähnlich je erlebt hat. In welchem fremden Land ist die alte Dame?

Naomi Feil nennt vier Stadien der Aufarbeitung:

  1. Mangelhafte Orientierung: die Person kann sich noch zeitlich und räumlich orientieren.
  2. Zeitverwirrtheit: Die Person vermischt Vergangenheit und Gegenwart.
  3. Sich wiederholende Bewegungen: Rhythmus und Bewegung ersetzen die Sprache.
  4. Vegetieren: Totaler Rückzug nach innen

Was heißt hier Aufarbeitung? Es sei ein Lebensstadium, das einige sehr alte Menschen, die achtzig Jahre und älter sind, durchleben. Es gebe eines oder mehrere Lebensthemen, unerfüllte Bedürfnisse, die den Menschen dazu brächten, in diese Zeiten zurückzugehen. Es gäbe etwas, das auf Aufarbeitung warte. So sagt Naomi Feil. Die alte Dame wäre demnach in der dritten Phase.

Was will sie aufarbeiten? Das Umfeld weiß es nicht. Es kann nur eines wollen und tun: Verbundenheit herstellen. Nicht gut sei, Ablenkung anzubieten, zu konfrontieren, negative Gefühle zu ignorieren, Mitgefühl zu zeigen (!). Dies sei für Menschen, die den Willen haben, sich zu ändern. In der Aufarbeitung gehe es darum nicht mehr. In der Aufarbeitung gehe es um lebenslang Verdrängtes. Keine weitere Zerstreuung bitte, nicht mehr! So verstehe ich Naomi Feil.

Es werde nicht gelingen, die Verwirrtheit zurückzudrehen. Es könne gelingen, zu begleiten, aufmerksam zu lauschen. Es könne gelingen, das 4. Stadium aufzuhalten, zu vermeiden, es könne gelingen, ein friedvolles Sterben möglich zu machen.

Hoher Anspruch. Und wenn es das einzig Sinnhafte wäre, so wäre es einen Versuch wert.

Trauen Sie sich zu, einer solchen Begleitung zuzusehen, fünf Minuten mitzugehen? Es könnte Sie berühren!
https://www.youtube.com/watch?v=CrZXz10FcVM

Was Frau Feil dort zeigt, ist Validation. Vorurteilsfreies Mitgehen.

Auswirkungen, die sich ergeben können, wenn Menschen sich dazu bereit finden:

  • Die alten Menschen sitzen aufrechter und öffnen die Augen.
  • Ausagierende Verhaltensweisen werden seltener oder hören ganz auf, wie zum Beispiel Schreien oder Schlagen.
  • Die alten Menschen verhalten sich weniger anklagend oder streitsüchtig.
  • Sie bleiben in Kommunikation, verbal oder nonverbal.
  • Sie ziehen sich nicht immer weiter zurück.

(Naomi Feil – entnommene Aussagen aus dem Trainingsprogramm Validation)