Wie lernen wir zu lieben? Dr. Gabor Maté schreibt in seinem Buch „Wenn der Körper nein sagt“, dass wir es lernen, indem wir geliebt werden. Dass Tiere ihren Nachwuchs ablecken, dient der Stimulierung der Körperfunktionen der Neugeborenen. Wer je dabei zugeschaut hat, die Hingabe und den Eifer miterlebt hat, weiß, dass es viel mehr ist als das. Die Eltern entwickeln zahlreiche Formen, taktil zu stimulieren und sorgen dadurch dafür, dass ihr Nachwuchs eine gesunde Entwicklung nimmt – sowohl körperlich als auch in Bezug auf ihr Verhalten. Das ist erlernte Liebe.
Auch wir Menschen brauchen diese Berührungen. Sie sind von grundlegender Bedeutung für unsere Entwicklung in emotionaler Hinsicht und in Bezug auf unsere Gesundheit. Körperliche Berührungen stimulieren die Produktion von Wachstumshormonen. Damit werden eine verbesserte Gewichtszunahme und auch die geistige Entwicklung gefördert. Es gilt für Tiere wie für Menschen: Kinder, die nicht erwünscht sind, werden nicht nur eine beeinträchtigte körperliche Entwicklung erfahren, sondern sie werden auch eine erste Ahnung davon bekommen, nicht in Ordnung oder gar liebenswert zu sein. Falls spätere Ereignisse dies verstärken, wird es zum Selbstbild gehören.
Berührt zu werden ist existentiell! Und dies gilt auch für die Berührung über unsere anderen Sinne: eine freundliche Stimme, freundliche Züge in uns zugewandten Gesichtern, vertraute Gerüche. Positive emotionale Interaktionen beeinflussen die Entwicklung des menschlichen Gehirns entscheidend. Vom Moment der Geburt an regulieren sie unseren Tonus und unser hormonelles System.
Es gibt eine Biologie des Fehlens. Fehlen die genannten Erfahrungen, wird dies physiologische und emotionale Störungen hervorrufen. Das heranwachsende Lebewesen steht unter Stress. Säugetiere, also auch wir Menschen, brauchen Fürsorge. Wie brauchen eine Fürsorge, die weit über die Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse hinausgeht. Nicht nur Nahrung, Unterkunft, Schutz und die Übermittlung von Informationen sind vonnöten. Es geht auch um den Kontakt, um die warme, angenehme emotionale Erfahrung. Die Liebe von erziehenden Personen ist die Triebfeder einer optimalen Reife der Schaltkreise des Gehirns und damit auch unserer Gesundheit.
Wo erziehende Personen, wo Eltern versagen, wird das Fehlen dieser Fürsorge in körperlicher und emotionaler Hinsicht das Kind in einen sehr schwierigen Lebensbewältigungsmodus führen. Manche haben nicht die Kraft, nicht das Wissen, nicht die Fähigkeit, dem Kind zu geben, was es benötigt. Wir verstehen, dass diese erziehenden Personen ihrerseits nicht erhielten, was sie so dringend gebraucht hatten. Heranwachsende spüren, dass etwas fehlt. Sie spüren, dass sie etwas Lebenswichtiges nicht bekommen. Sie fühlen, dass in der Familie, im Umfeld etwas nicht stimmt.
Menschen, die in Chaos und Elend heranwuchsen, die Krieg, Hunger, Gewalt erlebt und mitangesehen haben, wissen um ihren Mangel. Es ist schwer, dies anzuerkennen, es ist schwer, davon zu sprechen. Und wenn alle solches Leid erlebt haben, wem will man es erzählen, wie es war? Wenn aber Erwachsene nicht die Fähigkeit entwickeln, davon zu sprechen, was ihnen gefehlt hat, geben sie den Mangel an die nächste Generation weiter.
In meiner Praxis erlebe ich es immer wieder, dass Enkelkinder und auch die inzwischen betagten Kinder von Menschen, die ihre Kriegserlebnisse nicht verarbeiten konnten, verdrängten, schwiegen und darüber verhärteten, unter etwas leiden, das sie kaum begreifen und fassen können. Ein Leben lang können sie den Eindruck haben, an ihnen sei etwas falsch.
Ich erlebe auch, dass es auch im fortgeschrittenen Alter noch möglich ist, Wunden heilen zu lassen. Die Narben bleiben. Sie können fortschreitend weniger schmerzen, flacher und blasser werden, wir können darüber streichen und sie liebevoll verstehend berühren.
Der Schritt in einen Prozess, die Mangelerfahrung aufzudecken, anzuschauen und zu begreifen, ist auch der erste Schritt auf den Weg hinaus. Hinaus aus dem eigenen Leid und hinaus aus der Weitergabe an die nächste Generation – als Eltern, Erziehende, Lehrende, Ärzt_innen, Therapeut_innen und überall dort, wo wir in Kontakt zu Menschen gehen.
Eine gute Woche!