Gehirn verstehen 1

 „Der bekannte Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer erläutert, wie unser Gehirn konstruiert ist, wie Gefühle wirken, Wahrnehmung und Denken funktionieren, wie der Mensch im Schlaf lernt und dass man selbst im Alter noch weise werden kann.“ So lautet es im Begleittext der Online-Veranstaltung “Herz und Gehirn / Körper und Geist”, die das Auditorium Netzwerk seit heute präsentiert. Das Video, von dem ich hier berichte, ist der Sendereihe “Geist & Gehirn” von BR-alpha, dem Bildungskanal des Bayerischen Rundfunks, entnommen. Ich wies vor einigen Tagen bei facebook auf diese Veranstaltung hin und möchte in loser Folge hier etwas davon teilen. Der folgende Text gibt seinen Vortrag an vielen Stellen wörtlich wieder, aber nicht in allen, und hier und da lasse ich etwas aus. Ich verzichte daher meistenteils auf die Zeichen für wörtliche Rede.
Heute lesen Sie den Teil: „Großmutterneuronen“ – schon der Titel ist typisch Spitzer. Ich zitiere ihn mit seiner Art zu sprechen, bin also weniger „schriftlich“. Versuchen Sie, ihm beim Lesen „zuzuhören“! Viel Spaß!

„Guten Tag, meine Damen und Herren, es geht um Ihr Gehirn!“ So beginnt Spitzer und bemerkt, früher hätte man ja vor allem in der Hirnforschung gelernt, was auf keinen Fall zuträfe. Er sagt:

Wir haben damals gelernt, in der Psychologie, dass es Großmutterneuronen wirklich nicht gibt. Wir haben diese Theorie gelernt, um zu lernen, wie visuelle Wahrnehmung nicht funktioniert. Sie funktioniere nicht so, dass zunächst in einem Bereich die Informationen, sozusagen wie Pixel, von den Augen in die unteren Bereiche des Gehirns, ins visuelle System hinein gingen, und in anderen Bereichen, nämlich denen der Gehirnrinde, bestimmte Aspekte des Gesehenen verarbeitet werden, indem bestimmte Neuronen dafür zuständig seien.
Es wurde gelehrt, es gehe zunächst um die Identifizierung von Ecken und Kanten, um Richtungen, Bewegungen, Farben. Anschließend würden diese Informationen kombiniert, es würden immer komplexere Dinge identifiziert, es würden zum Beispiel Gesichter, zum Beispiel Objekte, zum Beispiel Landschaften identifiziert. Wichtig ist, dass wir damals gelernt haben, dass auf keinen Fall Wahrnehmung so funktioniere, dass hier die Pixel hinein gingen, und dann weiter oben die Bereiche nicht mehr nur für Ecken und Kanten zuständig seien, sondern um mehr, zum Beispiel für die eigene Großmutter. Das Großmutterneuron war also damals eine Karikatur. Die stand dafür, wie es nicht funktioniert. Dass nämlich nicht in der Großhirnrinde ein Neuron funke, wenn meine Großmutter vor mir steht und mich anlacht.

Wir sind heute einige Jahrzehnte weiter. Natürlich funktioniert Wahrnehmung genauso, wie wir vor 30 Jahren gelernt haben, dass sie nicht funktioniere. Woher wissen wir das? Man hat schon vor etlichen Jahren die Möglichkeit gehabt, bei einzelnen Affen einzelne Nervenzellen abzuleiten und genau zu schauen was treibt die um, wann gehen die an? Dafür gabs einen Nobelpreis in den Achtzigern. Am Anfang des Sehsystems gibt es Nervenzellen, die sind tatsächlich für Ecken und Kanten zuständig. Wie es weiter oben sein würde, das hat man lange Zeit nicht genau gewusst, also, wie es denn ist, wenn die Nervenzellen immer spezieller werden. Ja, dann war das irgendwann mal möglich. Dann hat man nämlich die geniale Idee gehabt, wir zeigen Affen mal Gesichter. Es stellte sich heraus, es gibt tatsächlich in höheren Zentren, die sitzen irgendwo da rechts oben, da gibt es tatsächlich Nervenzellen, die werden aktiv, wenn der Affe ein einzelnes Gesicht sieht. Das Spannende ist jetzt, der kann das Gesicht von vorne sehen, oder von der Seite oder von der anderen Seite, und diese eine Nervenzelle geht an, bei einem ganz bestimmten Gesicht. Die Nervenzelle steht also offensichtlich nicht für irgendeine bestimmte Geometrie. Sie steht für Eigenschaften des Objekts, steht für etwas Höherstufiges, Abstraktes. Für diese Person, da, deren Gesicht, von wo auch immer betrachtet, so aussieht.

Das war damals sehr spannend und man hat sich überlegt, wie ist denn das bei Menschen? Bei Patienten, bei denen man sowieso genau schauen wollte, weil man da operieren musste, zum Beispiel weil da ein Tumor war, wollte man schauen in bestimmten Bereichen des Gehirns, wofür welche Nerven denn zuständig sind. Da hat man einen guten Grund gehabt, sich das Gehirn ganz genau anzuschauen und eben auch beim wachen Patienten das Gehirn zu charakterisieren und in bestimmten Bereichen des Gehirns nachzuschauen, wofür einzelne Nervenzellen stehen.
Und jetzt gab die wirklich große Überraschung: Zum Beispiel hat man gefunden, dass aus der Seifenoper „Friends“, mit x Folgen mit immer mit den gleichen Schauspielern, die Schauspielerin Jennifer Aniston, von vorne, von der Seite gezeigt, dass da bei einem Patienten ein Neuron gefunkt hat. Das war für Jennifer Aniston zuständig, also ein Jennifer-Aniston-Neuron. Bei einem anderen Patienten hat man eins gefunden, das war für die Schauspielerin Halle Berry zuständig, auch wieder von verschiedenen Perspektiven angeschaut. Wenn diese Schauspielerin dran war, dann ging das Neuron an.
Es geht nicht nur um Großmütter, nicht nur um Schauspielerinnen, nicht nur um einzelne Gesichter, es gilt auch für Objekte. Welche Objekte nehme ich denn? Die wirklich jeder kennt und mit denen wirklich jeder irgendwie mal zu tun gehabt hat, die sozusagen bei jedem Menschen neuronal repräsentiert sind. Den Eiffelturm kennt jeder, es gibt andere Dinge, zum Beispiel auch das Opernhaus in Sydney.  Das Ding kennt einfach jeder, weil die Architektur so besonders ist, weil es ja auch so viel Geld gekostet hat, weil man es schon wieder renoviert hat und so weiter und so weiter. Jeder, der das sieht, der weiß gleich, was das ist und er kann das auch von woanders sehen, obwohl es dann ganz anders aussieht, man erkennt es. Die Objekteigenschaften sind jedes Mal vollkommen anders, und das ist wichtig, worauf das Neuron anspricht, ist also nicht irgendwelche „Dreieckshaftigkeit“ oder „Großsegelhaftigkeit“ oder „Gebäudehaftigkeit“ – das Neuron spricht an auf Sydney Opera House.

Und folgendes kann man beim Affen nicht machen. Man konnte es aber beim Menschen machen: Sie können auch einfach nur Sydney Opera hinschreiben. Das gleiche Neuron geht wieder an. Wir haben also hier tatsächlich mit Nervenzellen zu tun, die stehen nicht für irgendwelche Wahrnehmungseigenschaften, sondern die stehen für das ganz Allgemeine, was wir aus der Pixelsauce machen, die von den Augen kommt, und in unser Gehirn reingeht. Was wir draus machen – das finden wir tatsächlich in einzelnen Nervenzellen.
Das heißt nun nicht, dass nur dieses einen Neuron aktiv wäre. Wenn wir zum Beispiel an das Sydney Opera House denken:  Die Information, die in vielen Kanälen hineingeht und die dann da oben zusammenläuft, von der wissen wir ja, dass diese Information von da oben auch wieder runter gefüttert wird unser Eingangsbild. Es handelt sich nicht um Einbahnstraßen, sondern um 2-Wege Verbindungen. Das heißt, wenn von unten die Information hoch geht: Achtung, da ist eine Kante, dann kommt von da oben die Informationen zurück: Achtung, da hat ne Kante zu sein! Sofern das, was ich erkannt habe, es möglicherweise auch ist. Das heißt, die oberen Bereiche, die geben die Kanten zurück und die unteren geben die Kanten hoch, und dann gleichen sie sich ab und kriegen so raus aha, hier sieht das so aus und muss so aussehen. Das ist ganz wesentlich, denn nur durch dieses Hin und her der Informationen kommt es tatsächlich zustande, dass wir auch so schnell und so gut wahrnehmen, wie wir wahrnehmen.

Wenn ich nun an sowas denke oder auf den Schriftzug anspringe, oder ich so etwas wahrnehme, dann geht es nicht darum, dass dieses eine Neuron angeht, sondern es geht dann die ganze Kaskade von den Einzelheiten, von der Farbe, von vielleicht der Bewegtheit von bestimmten Umrissen, bis zu dem zuständigen Neuron und auch wieder runter.
Da ist natürlich nicht nur ein Neuron, da sind Hunderttausende von Neuronen drum herum. Wir haben gute Gründe zur Annahme, dass diese Neuronen so angeordnet sind auf der Gehirnoberfläche, dass ähnliche Repräsentationen nebeneinander liegen. Haben Sie ein Neuron, das für Jennifer Aniston zuständig ist in einer ganz bestimmten Hinsicht, dann ist vielleicht daneben eins, das für diese Schauspielerin in anderer Hinsicht zuständig ist. Wir haben eine ganze Reihe, wir haben eine Population von Neuronen, die für diese Schauspielerin oder jene oder für Ihre Großmutter zuständig sind.

Gibt es also Großmutterneuronen? Die Antwort heißt zunächst mal ganz klar JA. Es ist aber nicht so, dass Ihre Wahrnehmung von irgendeiner Sache nur in der Aktivierung eben dieses einen Neurons bestünde, sondern die Wahrnehmung besteht in der Aktivierung der ganzen Kaskade, die aber in dem Neuron zusammenläuft und gewissermaßen von dem Neuron auch zusammengehalten wird.
Und man hat tatsächlich herausfinden können, wie clever diese Großmutterneuronen sind, also diese Neuronen, die für etwas ganz Bestimmtes stehen: Man hat nämlich von der Schauspielerin, die mit ihrer Ehe Probleme gehabt hat und mittlerweile ja geschieden wurde, Bildchen gezeigt. Mit einer anderen Schauspielerin aus der Sendung gezeigt, ging das Neuron an, denn auf dem Bild war ja die Schauspielerin. Dann hat man ein Bildchen gezeigt von der Schauspielerin mit ihrem Ex-Mann Brad Pitt. Das Neuron ging nicht an. Das Neuron war also über die neusten Entwicklungen aus der Regenbogenpresse bestens informiert.
Sie sehen, es geht hier wirklich nicht nur um Wahrnehmung oder um Aspekte von Wahrnehmung. Es geht hier um Aspekte von Bedeutung, und es geht darum, dass wir hier einen fließenden Übergang haben von den Dingen, die von unten herein gehen, ins Wahrnehmungssystem, immer hochstufiger werden bis zu Neuronen, die wirklich für ein einzelnes, Abstraktes, für die bestimmte Person oder das bestimmte Objekt stehen, und das gesamte Hin und Her, die gesamte Hirn-Interaktion, die machen letztlich die volle Wahrnehmung aus.

Glückwunsch, Sie haben durchgehalten! Eine schöne Woche!