Was ich lese (1) Johann Hari

Moin zusammen! Meine Blog-Pause habe ich hiermit beendet. Ich werde wieder von Zeit zu Zeit etwas schreiben, allerdings nicht mehr mit der bisherigen Regelmäßigkeit. In der nächsten Zeit werde ich Einblicke in meinen Lesestoff geben. Das können Neuerscheinungen sein, von mir neu Entdecktes, obwohl schon länger auf dem Markt oder aus dem Regal Genommenes, weil es mir wieder einfiel.

Heute beginne ich mit Hari, Johann: Der Welt nicht mehr verbunden: Die wahren Ursachen von Depressionen – und unerwartete Lösungen (German Edition), HarperCollins. Kindle-Version.  
Copyright © 2017 by Johann Hari, Originaltitel: »Lost Connections: Uncovering the Real Causes of Depression – and the Unexpected Solutions.« erschienen bei: Bloomsbury, London

Johann Hari ist ein britischer Journalist, Schriftsteller, Kolumnist und Podcaster. Ein Wissenschaftler ist er nicht, das ist seinem Buch anzumerken. Auch tut er in seinem Text so, als verkünde er völlig neue Erkenntnisse zum Thema Depressionen und zur Fragwürdigkeit von medikamentöser Behandlung, und er erweckt den Eindruck, die Kritiker dessen fristeten allesamt ein Nischendasein. Das stimmt so nun nicht. Und dennoch: Es lohnt sich für mich zu lesen, weil hier ein Betroffener mit sehr starkem Engagement geschrieben hat und weil er Ursachen und Veränderungsmöglichkeiten von Depressionen mit einem sehr persönlichen Scheinwerfer beleuchtet.

Einige Zitate:

„Ich war achtzehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal Antidepressiva schluckte. Ich stand im matten englischen Sonnenlicht vor einer Apotheke in einem Londoner Einkaufszentrum. Die Tablette war klein und weiß, und als ich sie einnahm, fühlte es sich an wie ein chemischer Kuss. Am Vormittag hatte ich meinen Arzt aufgesucht. Es falle mir schwer, erklärte ich ihm, mich an einen Tag zu erinnern, an dem ich nicht geheult hätte wie ein Schlosshund. Seit ich ein kleines Kind war – in der Schule, im Studium, zu Hause, bei Freunden –, musste ich mich oft zurückziehen, mich irgendwo einschließen und weinen. Das waren nicht nur ein paar Tränen. Es war ein regelrechtes Schluchzen.“ (S.9 Kindle-Version)

„Ich wusste, was Depressionen sind. Sie kamen in Fernsehserien vor, und ich hatte Bücher darüber gelesen. Meine eigene Mutter hatte ich von Depressionen und Ängsten reden hören und beobachtet, wie sie Pillen dagegen schluckte.“ (ebda. S.11)
„Als ich an jenem Vormittag meinen Arzt aufsuchte, wurde mir rasch klar, dass er mit alldem ebenfalls vertraut war. In seinem kleinen Sprechzimmer erklärte er mir geduldig, warum ich mich so fühlte. Es gebe Menschen, in deren Gehirn von Natur aus ein Mangel an einer Chemikalie namens Serotonin herrsche, sagte er, und dadurch würden Depressionen verursacht – diese seltsame, hartnäckige Fehlzündung, die man Unglück nennt und die nicht weichen will. Glücklicherweise gab es, gerade rechtzeitig für meinen Start ins Erwachsenenleben, eine neue Generation von Medikamenten – Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs, selective Serotonin Reuptake Inhibitors) –, die den Serotoninspiegel auf das Niveau eines normalen Menschen heben. Eine Depression ist eine Krankheit des Gehirns, sagte er, und das ist die Kur. Er holte die Abbildung eines Gehirns hervor und sprach mit mir darüber.“ (ebda. S.11-12)
„Ein paar Wochen später ging ich an die Uni. Mit meiner neuen chemischen Rüstung hatte ich keine Angst. Dort wurde ich zum Wanderprediger für Antidepressiva. Wenn Freunde traurig waren, bot ich ihnen an, eine meiner Pillen auszuprobieren, und riet ihnen, sich beim Arzt welche zu besorgen. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass ich nicht nur meine Depression abgelegt, sondern in einen noch besseren Zustand aufgestiegen war – ich nannte das »Antidepression«. Ich war, so sagte ich mir, ungewöhnlich belastbar und energiegeladen. Zwar machten sich einige körperliche Nebenwirkungen des Medikaments bemerkbar – ich nahm stark zu und bekam unverhofft Schweißausbrüche –, aber das war ein geringer Preis dafür, dass ich die Menschen in meiner Umgebung nicht mehr mit Traurigkeit überschwemmte. Und – siehe da! – ich konnte jetzt alles schaffen.“ (ebda. S.13).

Nach einiger Zeit habe er von seinem Arzt höhere Dosen bekommen, da die Traurigkeit wiederkehrte. Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr sei das so weiter gegangen. Sein parallel behandelnder Therapeut teilte ihm seinen Eindruck mit, dass die Depression weiter bestehe. Hari hatte Angst, sich von den Medikamenten zu verabschieden, aber begann nun auch Fragen zu stellen. Eine davon war: Warum gibt es so viele Menschen in seinem Umfeld, die Pillen gegen psychisches Unwohlsein schlucken? Warum leiden so viele und woran?

Er machte sich auf eine Reise, besuchte Forschende, Therapeut_innen und Menschen, die einen anderen Lebensweg mit ihrer Depression gefunden haben. Den Abschnitt darüber, wie die Pharmafirmen tricksen und täuschen, um ihre Produkte zu verkaufen, überspringe ich hier und gehe gleich dazu, was Hari für sich als Ursachen und als Lösungen benennt.

Aus dem Inhaltsverzeichnis:

Ursache eins: Abgeschnitten von sinnvoller Arbeit

Ursache zwei: Abgeschnitten von den Mitmenschen

Ursache drei: Abgeschnitten von sinnvollen Werten

Ursache vier: Abgeschnitten vom Kindheitstrauma

Ursache fünf: Abgeschnitten von gesellschaftlicher Stellung und Ansehen

Ursache sechs: Abgeschnitten von der Natur

Ursache sieben: Abgeschnitten von einer hoffnungsvollen oder sicheren Zukunft

Ja, das leuchtet doch unmittelbar ein, oder? Dass es familiäre, soziale, ökonomische Hintergründe sind, die das Entstehen eine Depression begünstigen. Und sollte es eine genetische oder vorgeburtliche Disposition geben, die dabei eine wichtige Rolle spielt – woran denn könnte Veränderung ansetzen?

Doch nur an den Lebensverhältnissen, oder?

Dazu schreibt Hari sein Drittes Kapitel:

„Wenn die notwendigen Veränderungen groß erscheinen, so heißt das nur, dass es sich um ein großes Problem handelt. Und ein großes Problem ist nicht notwendigerweise unlösbar.“ (ebda. S.218)

Wiederverbundensein – eine andere Art von Antidepressiva

Er beschreibt, wie einem Mann von einer Dorfgemeinschaft in Kambodscha geholfen wird, nach einer schweren Verwundung durch eine Landmine eine Arbeit zu finden, die er zu seiner eigenen Zufriedenheit ausüben kann.

Er beschreibt Lösungswege anderer Art:

Ausweg eins: Gemeinschaft mit anderen Menschen

Ausweg zwei: Social Prescribing (=soziale Verschreibung)

Ausweg drei: Sinnvolle Arbeit (Hier merkt er an, dass es natürlich unangenehme und wenig erfüllende Arbeiten gebe, die allerdings notwendig sind für das gesellschaftliche Leben. Dass es aber sehr auf die Arbeitsverhältnisse ankomme, ob nämlich ein Mensch dort Einfluss nehmen kann und sich als Person einbringen kann.)

Ausweg vier: Sinnvolle Werte

Ausweg fünf: Mitfühlende Freude und die Überwindung der Selbstsucht

Ausweg sechs: Das Kindheitstrauma annehmen und überwinden

Ausweg sieben: Wiederherstellung der Zukunft

Aus seinem Fazit: „Das ist der Hauptpunkt, den ich meinem jüngeren Ich erklären möchte. Du wirst dieses Problem nicht allein lösen können. Es ist kein Defekt in dir. Um dich herum herrscht überall ein Hunger nach Veränderung, er lauert direkt unter der Oberfläche. Schau dir die Leute an, die dir in der U-Bahn gegenübersitzen, während du das hier liest. Viele von ihnen leiden an Depressionen und Ängsten. Noch viele weitere sind ohne Not unglücklich und fühlen sich in der Welt, die wir geschaffen haben, verloren. Wenn du am Boden bist und in der Isolation verharrst, wirst du wahrscheinlich depressiv und ängstlich bleiben. Wenn du dich aber mit anderen zusammentust, dann kannst du deine Umwelt verändern.“ (ebda. S.349-350)

Habe ich mit meinem Beitrag Interesse, Zustimmung oder Widerspruch geweckt? Schreiben Sie mir gern an info@heilpraxis-psychotherapie-roderwald.de!

Eine gute Zeit!