Gehirn verstehen 2: Sucht nach Hunger

Manche junge Frau hungert und stirbt daran. Was sagt Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer dazu? Wie hängen Geist und Gehirn bei dieser Thematik seiner Ansicht nach zusammen? In unserer Kultur sei unser Verhältnis zum Essen ein künstliches, sagt er. Wir lernen aus verschieden Gründen nicht mehr, dem natürlichen Bedürfnis nach Nahrung nachzukommen.
(Ich gebe hier weiter, was er in der Sendereihe „Geist & Gehirn“ von BR-alpha, dem Bildungskanal des Bayerischen Rundfunks, dazu gesagt hat und gebe gelegentlich meinen Senf dazu.)

Wir essen vieles, das künstlich ist und oft ungesund. Das Essverhalten von Jugendlichen wird deswegen oft kritisiert, und das kann beim Zustandekommen einer sogenannten Essstörung eine Rolle spielen. Wer sich in die Defensive gedrängt sieht für das, was er nun einmal gerne tut, wird reagieren. Eine Möglichkeit, dem Konflikt auszuweichen wäre, ins gegenteilige Extrem zu verfallen und nach und nach nur noch etwas Salat zu verzehren. Anfangs freuen sich darüber noch alle, bis dann das Blattgemüse in immer geringeren Dosen zu sich genommen wird und höherkalorische Nahrung gar nicht mehr.

Ähnlich könnte es einem Heranwachsenden ergehen, der Dauerkritik erntet, weil er Stunden an seinem Handy oder dem Laptop verbringt. Trotzig beginnt er zu laufen, euch zeig ich’s! Guckt mal, was ich kann! Was wollt ihr von mir? Der Stress, den die Dauerkritik auslöst, wird in Bewegung umgesetzt, und bei wem es sich gut anfühlt, so zu handeln, der könnte das immer ausgeprägter praktizieren.
Zunächst wirkt dies selbstwerterhöhend, denn es wird möglicherweise viel Lob und Bewunderung gespendet, auch entsteht der Eindruck, die Lage im Griff zu haben. Es ändert sich der Prozess, wenn Hungern und Joggen zu sichtbaren Zeichen der Gesundheitsgefährdung führen, Muskelmasse verloren geht trotz Training und die sogenannte Magersucht eingetreten ist.

Stress jeglicher Art kann zu verminderter Aufnahme von Nahrung und damit von Energie führen. Am Anfang kann es so sein, dass die Jugendlichen sich abgrenzen wollen, sich in dem Zeigen von Leistung nicht fremdbestimmen lassen wollen, damit also ganz gesunden Wünschen dieses Alters folgen. Bis sich der Mechanismus anscheinend verselbständigt. Und paradoxerweise will der Organismus sich gleichzeitig damit mehr bewegen, fast wie auf einer Flucht, und wird damit mehr Energie verbrauchen. Ein Teufelskreis.

Die Gehirnforschung hat uns schon für zahlreiche Themen gezeigt, dass bestimmte Bedingungen eben auch bestimmte Regionen im Gehirn aktivieren.
Dazu eine Studie zum Thema Gewicht:
Frauen, die Bilder untergewichtiger, sogenannt normalgewichtiger und übergewichtiger Frauen sahen, sollten deren Gewicht schätzen. Frauen, die an Anorexie, genannt Magersucht, litten, zeigten keine Besonderheiten in der Einschätzung des Gewichtes, verglichen mit Frauen, die nicht an Anorexie litten.
Wurden die Frauen allerdings nach dem Empfinden gefragt, das sie verspüren, wenn sie sich vorstellen, dieser gezeigte Körper wäre der ihre, zeigten sich deutliche Unterschiede. Frauen, die selbst als normalgewichtig eingestuft waren, fühlten sich auch beim Anblick der gezeigten Norm am besten. Anorektische Frauen fühlten sich dort jedoch bereits schlecht, am besten fühlten sie sich beim Anblick der untergewichtigen Frauen. Soweit deren Selbstauskunft. Das war so auch zu erwarten.
Deren Gehirnaktivität allerdings zeigte etwas mehr: Dieses Wohlgefühl bildete sich auch im Nucleus accumbens ab, der mit den mit ihm verbundenen Hirnregionen für Glücksempfinden, Vergnügen, Belohnung, Motivation und Lernen steht. Leider ist er auch mit dem Erlernen von Sucht verknüpft.  Hier bildet sich die Energie dafür, etwas Angenehmes immer wieder zu tun. Wenn der Gedanke an Hunger zunehmend verknüpft wird mit dem Gedanken an Wohlbefinden und Belohnung, dann sind wir im Zustand des Hungerns nach Hunger.
Es scheint so zu sein, dass der Nucleus accumbens auch in unangenehmen Situationen aktiv wird. Wenn jemand auf etwas stößt, das er / sie nicht mag, dann wird im Nucleus accumbens die Motivation aktiviert, aus dieser Situation zu entkommen. Möglichst mit etwas, das Spaß macht.
Neurotransmitter spielen wie immer eine Rolle, besonders Dopamin, und endogene Opioide.
Eine Aktivierung dieser Gehirnregion führt zu Lernprozessen. Der Lernturbo für positive Dinge geht an und leider auch für Suchtverhalten.
Untergewicht und das damit grundsätzlich assoziierte Hungergefühl wird ungünstigenfalls mit Wohlgefühl verbunden. Irgendwann wird der Hunger nicht mehr gespürt. Nur noch das Wohlgefühl bei dem Vermeiden der Nahrungsaufnahme. Einmal gelernt, schleift sich die Verbindung immer weiter ein. Schlankheit denken, Hunger denken bringen also ein gutes Gefühl. Das möchte man wieder haben, der Vorgang verstärkt sich immer weiter.
Vielleicht können wir nun schon besser verstehen, was es den betroffenen Menschen so schwer macht, ihr Verhalten so zu ändern, dass sie ihren Organismus nicht länger schädigen!

Verstehen allerdings, das kriegen wir alle zusammen mit unserer Großhirnrinde hin, und es gibt die Verbindung: Hin und zurück, vom Denkapparat zu all den inneren Beteiligten bei selbst herbeigeführter Belohnung. Reden wir miteinander, Wissen hilft!

Eine gute Woche!