Was ich lese (3) Dr. Gabor Maté, Unruhe im Kopf

Über die Entstehung und Heilung der Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADHS, Narayana Verlag, 1. Auflage 2021, Originalausgabe 1999 SCATTERED MINDS Alfred A. Knopf, Canada

Ich zitiere aus An den Leser: „Unruhe im Kopf besteht aus 7 Teilen. In den ersten 4 werden die Merkmale der Aufmerksamkeitsdefizitstörung beschrieben und ihre Ursprünge erläutert, während in den letzten 3 der Heilungsprozess im Mittelpunkt steht. Teil 5 „Das ADHS-Kind und Heilung“ richtet sich nicht nur an Eltern, sondern auch an Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung, da er wichtige Informationen liefert, sich selbst verstehen zu lernen. In ähnlicher Weise können Eltern, die die Kapitel über Erwachsene mit ADHS lesen, vielleicht weitere Erkenntnisse über ihre ADHS-Kinder und über sich selbst erlangen.“

Ich zitiere einen großen Teil der Einleitung, da ich es wichtig finde, die Haltung von Dr. Maté zu kennen, mit der er dieses Buch geschrieben hat. Diese könnte wichtig sein für Deine, für Ihre Entscheidung, das Buch zu lesen oder nicht.
„Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung wird in der Regel von allen, die an schlechte Gene ‚glauben‘, als deren Ergebnis angesehen, und alle, die nicht daran glauben, sehen sie als Folge schlechter Erziehung. Die Aura der Verwirrung und sogar der Verbitterung, von der die öffentliche Debatte über diese Störung umgeben ist, steht einer vernünftigen Diskussion im Wege. Diese Diskussion sollte darüber geführt werden, wie sowohl die Umgebung als auch die Vererbung die Neurophysiologie von Kindern beeinträchtigen können, die in gestressten Familien, in einer zersplitterten und unter starkem Druck stehenden Gesellschaft sowie in einer Kultur aufwachsen, die zunehmend hektischer zu werden scheint.
Ich selbst leide an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Und auch bei meinen 3 Kindern wurde ADHS diagnostiziert. Ich glaube nicht, dass es hierbei um schlechte Gene oder schlechte Erziehung geht, sondern vielmehr um Gene und Erziehung. Die Neurowissenschaften haben nachgewiesen, dass das menschliche Gehirn nicht nur durch biologisches Erbgut programmiert wird, sondern dass die Schaltkreise im Gehirn auch dadurch geprägt werden, was nach der Geburt eines Kindes und sogar während der Zeit im Uterus geschieht. Die Gefühlszustände und die Lebensweise der Eltern üben einen starken Einfluss auf die Bildung der Gehirne ihrer Kinder aus, obwohl Eltern solche subtilen, unbewussten Einflüsse oft nicht kennen oder kontrollieren können. Die gute Nachricht ist, dass es in den Schaltkreisen des Gehirns eines Kindes und sogar eines Erwachsenen zu großen Veränderungen kommen kann, wenn die für eine positive Entwicklung erforderlichen Bedingungen geschaffen werden.“
Maté geht es hierbei nicht darum, Schuld zuzuweisen oder Fehler zu finden. Es geht ihm darum, ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, wie die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung genutzt werden kann, um die emotionale und kognitive Entwicklung der Kinder zu fördern. Auch Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung könnten Erkenntnisse finden, die ihnen dabei helfen, ein tieferes Verständnis ihrer selbst und des Weges zu ihrer eigenen Heilung zu entdecken. Nicht zuletzt auch Lehrenden soll dieses Buch das Verständnis dessen, wie es dem Kind geht und was es braucht, und darüber, was ein falsch verstandenes Krankheitsbild sein könnte, erleichtern. Grundlagen sind die neurowissenschaftliche Forschung, die Entwicklungsbiologie, die Familiensystemtheorie, die Genetik und Medizin. Hinzu kommen die Interpretation gesellschaftlicher und kultureller Trends, auch die Erfahrung von Doktor Maté selbst. Es befinden sich im Buch zahlreiche Fallbeispiele und im Anhang für weitere Informationen den Kapiteln zugeordnete Quellenangaben.

Zum Thema der Medikation rät Maté dringend zur differenzierten und individuellen Beurteilung. Grundsätzlich ist er der Meinung, dass man Kinder nicht dazu zwingen darf, Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen, um für ihre Umgebung ein geringeres Problem aufgrund ihres Verhaltens darzustellen. In einigen Fällen erweist sich Medikation als hilfreich. Alle Beteiligten sollten wissen, was sie tun und immer wieder neu entscheiden, falls erforderlich. Das Kind selbst sollte entscheiden können. Medikation als einzige Intervention oder auch als erster Behandlungsansatz? Dieses lehnt Maté ab. Medikamente allein bewirken seiner Erfahrung nach keine langfristigen positiven Veränderungen. Selbst wenn sich Kinder bewusst für eine Medikamentengabe entschieden haben, kann es dazu kommen, dass ihr Selbstgefühl Schaden nimmt. Das Medikament sollte abgesetzt werden, wenn das Kind sinngemäß sagt Ich fühle mich nicht mehr als ich selbst. Die heimliche Botschaft der Medikation kann auch darin bestehen, dass das Kind den Eindruck mitnimmt, nicht von seinen Eltern akzeptiert zu werden, wie es nun einmal ist. Und dieses ist mit Angst besetzt.
Auch für Erwachsene gilt, dass beim Vorhandensein von Ängsten oder einer niedrigschwelligen Depression die Medikation durch Psychostimulanzien möglicherweise zu einer Verschlimmerung führt. Depression oder Ängste sollten mindestens gleichzeitig, besser aber zuerst behandelt haben.

Für alle Behandlung gilt: Zuallererst nicht schaden!

Eine gute Woche!