- Quälgeist oder Ressource? Neurobiologische Grundlagen und praktische Abhilfe, Hogrefe Verlag Bern 2021
Das schlechte Gewissen, in der Folge SG abgekürzt, dürfte den meisten Lesenden wohlbekannt sein. Da möchte uns jemand in der Mittagspause von seinen großen oder kleinen Alltagsproblemen erzählen – wir aber wollen den Kopf frei kriegen und um die vier Ecken joggen.
Da lebt jemand allein, fühlt sich einsam, will vorbeikommen – wir aber haben uns gerade nach etlichen Anstrengungen sehr auf einen Sonntag in Schlunzklamotten gefreut, an dem wir mal einfach nicht reden und nicht zuhören möchten.
Jemand will mit uns im Auto zu mitfahren – wir aber halten uns seit Monaten wegen Ansteckungsgefahren durch Corona sehr zurück und verzichten auf vieles, durchaus mit Verlustempfinden…
Ach ja, beinahe vergessen: Jemand möchte uns zum Weihnachtsessen einladen – wir möchten lieber nicht, wir haben eigene Vorstellungen, die uns wichtig sind.
SG ist womöglich dabei, wie immer wir entscheiden. Mal, weil wir unseren eigenen Wünschen folgen, mal weil wir mal wieder nachgeben – denn auch uns selbst gegenüber können wir von einem SG gequält werden, wollten wir doch lernen, auch die eigenen Bedürfnisse zu würdigen.
Maja Storch kennt drei Optionen des Umgangs mit SG: es zum Schweigen zu bringen, es zu mildern und es als Leitlinie für eine Richtungsänderung zu erkennen. Diese drei Optionen beschreibt sie anschaulich und unterhaltsam im ersten Teil des Buches.
Sie beobachtete an sich selbst, dass es schwierig sein kann, allein durch Einsicht in die Sinnlosigkeit des quälenden Erlebens das SG zu besänftigen, daher tat sie sich mit Gerhard Roth zusammen, der im zweiten Teil die Psychologie und Neurobiologie des SG erläutert.
Wir erfahren etwas über die „Zutaten“ von SG:
- eine Handlungsabsicht, auf der Grundlage von Bedürfnissen,
- innere Normen, die damit in Konflikt stehen,
- die Erwartung von Sanktionen bei Übertretung,
- Abwägung von Gewinn und Sanktionen,
- Stärke und Frequenz von Sanktionen
- und die bisherigen Erfahrungen mit diesen Sanktionen.
Wie unsere Persönlichkeit sich entwickelt hat, das ist der Boden, auf dem die Zutaten zur Wirkung kommen. Roth erläutert knapp und anschaulich, wobei es sich bei der Epigenetik handelt, also den Einflüssen auf unsere Persönlichkeitsentwicklung, die zwischen Genetik und frühkindlicher Erfahrung stattfinden. Wir können ihm in die Ebenen des Gehirns folgen, die an unserer Entwicklung beteiligt sind, schon vorgeburtlich. Wir lesen, dass wir gewöhnlich erst im Alter von 20 Jahren (frühstens!) „halbwegs zur Vernunft gekommen sind“ und uns einigermaßen gesetzeskonform und normgerecht verhalten, und darüber, wie sich dies in unserem Gehirn abbildet.
Da es ja um unseren Quälgeist SG geht: Die kognitiv-sprachliche Ebene, so lesen wir, kann nicht so ohne weiters auf unser Verhalten einwirken. Was sich in unseren Hirnregionen unterhalb dieser Ebene abspielt, hat erheblichen Einfluss. Nach einem gut nachvollziehbaren Ausflug in die Welt der chemischen Botenstoffe im Gehirn (Stichworte Stressverarbeitung, Selbstberuhigungsfähigkeit, inneres Motivationssystem, Bindung, Impulshemmung und Risikowahrnehmung), lernen wir etwas über das Zusammenwirken der Systeme: Konfliktmöglichkeiten wo wir hinschauen, zwischen bewussten Zielen, zwischen unbewussten Motiven und bewussten Zielen, zwischen unterschiedlichen Motiven.
Jetzt wird es spannend:
Der Wunsch, Geborgenheit und Zugehörigkeit zu empfinden, kann uns auch schwächen, wenn er dominant geworden ist. Wir passen uns mehr an, als uns guttut.
Das Streben nach Einfluss und Kontrolle kann mit diesem Wunsch kollidieren. Die Furcht vor Machtverlust kann gewinnen. Dann erzählen wir uns womöglich etwas darüber, dass es leider gar nicht anders gehe, als uns so zu verhalten, wie wir entschieden haben zu tun.
Das Streben nach Leistung hat als Schattenseite die Angst vor Versagen im Gepäck. Es kann allerdings auch helfen, sich über Verbote und Gebote hinwegzusetzen, um Ziele zu erreichen!
Noch ein Konflikt: Mit etwas aufhören wollen (Rauchen), aber nicht können, weil die Gewohnheit so mächtig wirkt? Die als automatisch erlebte Verhaltensweise kann unterbrochen werden, am Anfang steht die Wahrnehmung und Beobachtung, die Veränderung des Kontextes hilft. (In der Mittagspause nicht in die Raucherecke zu gehen, was anderes zu machen ist hilfreicher, als auf die „Widerstandskraft“ zu bauen.)
Für all das gilt, auch im Zusammenhang mit SG: Wenn wir unsere inneren Konflikte lernen zu verstehen, können wir uns auf den Weg machen, wir können Neues einüben.
Im dritten Teil es Buches beschreibt uns Maja Storch, wie dies geschehen kann, und zwar an den Beispielen des ersten Teils. Das sehe ich als eine Stärke des Buches: Wir hatten Anregungen, unser SG zu beobachten, wir haben etwas darüber erfahren, warum es so hartnäckig sein kann, und nun lesen wir etwas über Wegweiser aus dem Dilemma.
Wie helfen wir unserem Gehirn, eine andere Stimmungslage zu erreichen? Das Stresserleben runterzufahren, das Beruhigungssystem hochzufahren? Dabei helfen ressourcenvolle Bilder!
Haben wir schon einmal beobachtet, wie ein kleiner oder großer Hund die Welt hinter sich lässt und „chillt“? Können wir diesem Zustand in unserem Körper einen Ort geben? Welche Symbole passen dazu? Das ist die Methode „Somatogramm“: Wir malen uns als Umrisswesen, wir verorten die ressourcenvollen Empfindungen in diesem Bild mit dem Einzeichnen von uns vertrauten und angenehmen Symbolen. Herzchen sind recht beliebt hierbei. Farben spielen eine Rolle.
Das Bild wird uns nun begleiten, wir nutzen es im Alltag, indem wir es anschauen, im Körper nachspüren, wieder und wieder abrufen, bis wir merken, es wurde Teil unseres inneren Systems.
Wir erfahren, dass wir unsere im Konflikt stehenden Affekte bilanzieren können: negative Affekte und positiv empfundene Affekte tauchen häufig nebeneinander auf, es hilft, sie auseinanderzuhalten, sie zu skalieren. Gern mit Säulen oder Thermometern, statt mit Zahlen. Dann können wir besser beurteilen, wie es uns genau geht mit den im Konflikt stehenden Handlungsmöglichkeiten (Besuch zulassen oder dem Ruhebedürfnis nachgeben?). Das hilft uns auch, „dritte“ Lösungen zu finden, vom Entweder-Oder wegzukommen!
Und zum krönenden Abschluss: Motto-Ziele! Mit bildhaften Formulierungen das Unbewusste anzusprechen, finde ich sehr vergnüglich. Unser Raucher in dem Buch hat folgendes Motto-Ziel gefunden: Ich inhaliere Leben!
Eine gute Zeit und grüßen sie Ihr SG von mir! Es darf sich mal einrollen und etwas ruhen ?