Entdecken Sie die Kraft Ihres Körpers, Schmerzen zu überwinden. Fünfte Auflage 2020, Kösel Verlag, München.
Die meisten von uns werden in ihrem Leben unterschiedliche Bedrohungssituationen erlebt haben. Entweder wurden wir tatsächlich mit einem Angriff bedroht, oder eine Krankheit oder ein Unfall hat uns eine Ahnung von erlebter Gefahr hinterlassen. Oder gab es eine andauernde schwierige Situation mit Einschränkungen durch übergriffige Partner? Oder chronisch stressige Situationen am Arbeitsplatz, die mit dem Mangel an Einflussmöglichkeiten einhergingen? Stress durch Mangel am Lebensnotwendigen?
Auf akute Bedrohung reagieren wir zunächst wie alle Säugetiere: Das sympathische Nervensystem sorgt dafür, dass wir in einem akuten Angriff einen Aufruf zum Handeln erleben. Wir entscheiden in Blitzesschnelle, ob wir zum Gegenangriff übergehen oder ob wir fliehen wollen. Das Leben zu schützen ist die Aufgabe dieser Funktion.
Wird eine Bedrohung durch ihre Dauer oder durch ihren Charakter allerdings als potenziell tödlich oder unausweichlich wahrgenommen, löst dies die dritte natürliche Reaktion aus: das Erstarren. Wir verharren bewegungslos, warten, dass die Gefahr vorüber geht.
Es kann sein, dass wir Menschen in diesem Zustand stecken bleiben und uns im Leben wie erstarrt fühlen. Die Schutzreaktion war einmal sinnvoll. Wenn sie sich jedoch verselbständigt, verspannt unser Muskel-Skelett-System und zieht sich zusammen. Und unser Gefühl ist von Hilflosigkeit, Verzweiflung oder Abspaltung gekennzeichnet. All dies kann Teil des Schmerzproblems sein, unter dem wir möglicherweise leiden. Der Schmerz verschwindet auch bei Abspaltung nicht einfach. Denn die Ur-Situation, das Steckengebliebensein im bedrohlichen Ereignis ist weiterhin im Gehirn gespeichert. Nicht beseitigt, nicht überwunden, nicht bewältigt, nicht aufgelöst. Die Abspaltung hindert uns daran, im Hier und Jetzt zu sein.
Ich zitiere: „Stellen Sie sich ein Kaninchen vor, das in einer kleinen Mulde Gras mümmelt. Ein Geräusch dringt aus den Büschen. Die Ohren des Kaninchens stellen sich auf, gefolgt vom Kopf, und wenden sich dem Geräusch zu, um dessen Quelle zu lokalisieren und einzuschätzen, ob es lebensbedrohlich ist. Aus dem dichten Blattwerk springt ein Kojote ins Blickfeld. Die Jagd beginnt: Das Kaninchen spannt die Muskeln an und duckt sich, um dann loszuspringen, in der Hoffnung, durch mehrere waghalsige Haken zu entkommen. Letzten Endes nutzt das Kaninchen seine Ressourcen wie Geschwindigkeit und Beweglichkeit (und auch etwas Glück), um zu entkommen, und versteckt sich dann in einem hohlen Baum oder einem Loch. Endlich in Sicherheit nimmt es ein paar tiefe Atemzüge und schüttelt sein bedrohliches Erlebnis ab.“
Wir Menschen tun das in der Regel nicht. Wir schütteln es nicht ab. Wir lassen unter Umständen den Stress der Bedrohung nicht los. Wir blockieren. Lenken uns auf nicht förderliche Weise ab. Uns fehlten vielleicht gute Vorbilder, wir dachten nicht darüber nach, was wir wirklich brauchen, um uns von der Situation zu lösen.
Prüfen Sie einmal Ihre Körperreaktion, indem Sie jetzt laut die Worte „Furcht“, „Ärger“, „Gelähmtheit“, „Erstarrung“ aussprechen. Tun Sie dies noch einmal langsamer und halten sie nach jedem Wort inne. Überprüfen Sie nun Ihre Körperreaktion. Welche Bilder, welche körperlichen Gesten oder Reaktionen werden Ihnen bewusst? Verändert sich Ihre Körperhaltung?
An diese Beziehung zwischen inneren Bildern, Körperempfindungen und Schmerzen werden wir mit der nächsten Übung anknüpfen. Wir können lernen, der Schmerzfalle zu entkommen. Sie beginnt dort, wo wir natürlich reagieren auf lebensbedrohliche Situationen. Die Angstreaktion bei Gefahr bewirkt, dass der Körper in Anspannung gerät. Verbleiben wir in der Verspannung, wird Schmerz verursacht. Und mit der Zeit verspannen wir uns gegen die innere Bedrohung durch den Schmerz als solche.
Dieser Kreislauf von Bedrohung, Angst, Anspannung, Bewegungseinschränkung, Schmerz, Angst vor Schmerz, erneute Anspannung kann, wenn er nicht unterbrochen wird, chronische Schmerzen hervorrufen. In der Falle sitzen wir, wenn wir denken „Ich bin der Schmerz.“ Wir kommen aus dieser Falle heraus, indem wir lernen, stattdessen die Sätze zu denken „Ich erlebe diesen Schmerz“, hin zu „Ich erlebe die Empfindungen, auf dem der Schmerz basiert.“
Diese Schritte sollten wir mit unserem Körper gehen und nicht nur mit unseren Gedanken! Auf diesem Hintergrund lade ich Sie zu der Übung ein „Den gefühlten Sinn erforschen“
Beginnen Sie gerade jetzt! Wenn Sie dies lesen, ganz gleich, ob Sie gerade sitzen, liegen oder stehen!
Spüren Sie ihre Füße? Sind sie mit dem Boden verbunden oder auch nicht? Drücken sie gegen eine Unterlage, schweben sie? Woher wissen Sie das eigentlich, wenn Sie gar nicht hinschauen? Können Sie ihr Gewicht verlagern? Wie verändert das Ihre Wahrnehmung? Erforschen Sie ihren Unterkörper, ihre Waden, ihre Oberschenkel in Verbindung zu Ihren Füßen! Fühlt sich das rechte Bein anders an als das linke? Wie würden Sie das beschreiben? Gibt es Körperbereiche, die ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Was bemerken Sie dort? Wie würden Sie das beschreiben?
Wenn Sie einen Körperteil gründlich erforscht haben, erlauben Sie dem nächsten, Ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Halten Sie immer ein wenig inne! Und achten Sie auf Ihren gefühlten Sinn. Finden Sie Worte zur Beschreibung! Beispiele: locker blockiert, gestaut, fließend, kribbelnd, schwer, schwebend, leer, kalt oder warm. Finden Sie eigene Worte! Wenn Sie immer dasselbe Wort benutzen, überlegen Sie, ob andere Worte zutreffender sein können!
Erforschen Sie nun auch Gerüche oder Geschmäcker, die Sie wahrnehmen, Geräusche oder Vibrationen! Wie ist Ihr Körpergefühl in diesem Augenblick? Eher angenehm, unangenehm oder neutral? Woher wissen Sie das? Spüren Sie sich energiegeladener als zu Beginn der Übung? Möchten Sie jetzt gerne einen Spaziergang machen oder anders aktiv werden? Oder fühlen Sie sich friedlich und ruhig und können sich noch mehr Zeit für die Erforschung dieses Zustands einräumen?
Anschließend nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit, um ihre Reaktionen in Ihrem Schmerztagebuch festzuhalten.
Eine gute Zeit!