Was mich umtreibt (1)

Skulptur „Mitgefühl“ Heike Fischer-Nagel 2019, Foto © Ulrike Roderwald

Ich denke an meinen Ausbilder in Kognitiver Verhaltenstherapie, Harlich H. Stavemann, und daran, was eine Therapeutin mitzubringen habe – im Hinterkopf den Imperativ aller Heilkunst: „erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen“ (um das Jahr 50 der Arzt Scribonius Largus).

Was braucht es also meinerseits: (Stavemann)

  • Fachwissen und Kompetenz, die in der Therapiestunde dadurch wirksam werden, dass ich meine Interventionsschritte plausibel vermitteln kann und damit die Motivation der Hilfesuchenden stärke.
  • Empathie und Menschenkenntnis, die mir helfen, die Hilfesuchenden zu verstehen und Prognosen zu entwickeln, die therapeutische Beziehung tragfähig zu halten und eine gemeinsame therapeutische Strategie zu entwickeln.
  • Eigene Strukturiertheit und Kongruenz – nicht nur in der Therapieplanung, sondern in jeder Therapiestunde (O weh, das ist manchmal danebengegangen! Nicht jeder Satz wurde klar verständlich formuliert, hier ist lernen angesagt!)
  • Selbstvertrauen ohne Selbstwertschöpfung, das bedeutet unter anderem, nicht „verletzt“ zu reagieren, wenn die Hilfesuchenden Ablehnung zum Ausdruck bringen. (Ja, und dann gibt es noch den Gedanken: Was ist, wenn ich nicht helfen kann? Da sollte ich immer sehr genau hinschauen, dies nicht mit meinem Selbstwert zu verknüpfen, wenn ich den Anspruch erfüllen will!)
  • Reflektierte Persönlichkeit ohne Wahrheitsanspruch, denn Hilfesuchende und ich unterscheiden sich in dem, was wir an Werten und Lebensphilosophie entwickelt haben.
  • Geduld und Interesse, damit die Hilfesuchenden in ihrem inneren Gefüge von mir verstanden werden können und nicht von mir eigene Lösungswege vorschnell angeboten werden (Hier kann ich noch mehr Ruhe in den Prozess bringen, als ich es tue!) „Es dauert, so lange es dauert!“ (Stavemann)

Stavemann hat nicht nur Bücher zur Ausbildungsbegleitung geschrieben, sondern parallel dazu Bücher, die sich direkt an Klient_innen wenden, sie sind geeignet zur Therapiebegleitung, können aber auch der Selbsterfahrung und Selbsthilfe dienen. (Beispiel: Im Gefühlsdschungel, Emotionale Krisen verstehen und bewältigen, Weinheim 2018)

 Skulptur „Mitgefühl“ Heike Fischer-Nagel 2019, Foto © Ulrike Roderwald

Ja, es möge eine therapeutisch arbeitende Person sich selbst so gut kennen, dass die Klient_innen während des therapeutischen Prozesses nicht quasi hinterrücks in die Konflikte des Therapierenden hineingezogen werden!

Auch wenn dies gegeben ist: Es gibt auch für Therapierende schwierige Zeiten. Selbstzweifel gehören dazu, sich in Frage zu stellen über das alltägliche gesunde Maß hinaus, beunruhigende Träume, schwere Gedanken, auch Traurigkeit. Zum Menschsein von uns allen gehört es dazu, sich von Zeit zu Zeit selbst krisenhaft zu erleben.

Was kann so etwas auslösen? In meinem Fall ein Buch: Jutta Dittfurth, Ulrike Meinhof, die Biografie, Berlin 2007. Als Schülerin früh zur APO-Bewegung gefunden, durch Mitschüler, Bücher, eigene Gedanken und Emotionen zu der mangelnden Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen, dem Mitmachen und Wegsehen, dem Verleugnen und Totschweigen, sind die Erinnerungen doch allmählich verblasst. Dittfurth beschreibt nun so minutiös diese Frau und diese Zeit, mit der Spießigkeit und der staatlichen Gewalt, mit der zunehmenden Zerrissenheit der Opposition, dass ich auf einmal wieder mittendrin bin. Mich herausarbeitend aus der Kindheit, mich finden und selbst definieren wollend wie alle Heranwachsenden – das ist auf einmal wieder da im inneren Erleben. Da gab es vieles, das mich geprägt hat. Nicht alles ist so integriert, dass es nicht noch den Weg in die Träume fände. Da irre ich wieder durch Häuser und Straßen und stehe wieder vor Polizisten-Ketten mit locker sitzenden Knüppeln. Kein Ausweg…

Skulptur „Mitgefühl“ Heike Fischer-Nagel 2019, Foto © Ulrike Roderwald

Was tun? Auch mir als therapierender Person können Gespräche helfen, mir im Dialog besser und tiefer auf die Spur zu kommen, als ich es alleine mit meinen Werkzeugen der Selbstreflexion kann. Es ist gut, einen weiteren Schritt in der Lebensbewältigung tun, es ist eine Aufgabe, bis zum Ende des Lebens, so sehe ich das. Dazu gehört, nicht darüber hinwegzusehen, wenn im Innern etwas brütet und nach oben will, nicht den Deckel darauf zu halten, sondern wahrzunehmen, zu forschen, zu erkennen, Schlüsse zu ziehen – Veränderung zu erleben.

Was noch? Schreiben. Zeichnen. Eine Art Tagebuch. Zeiten für die inneren Einkehr im Alltag bereit halten. Gedanken schweifen lassen ohne Denkverbote.

Was noch? Entspannen, natürlich. Musik hören, die das Unbewusste herausfordert. Ich gehe in meine Praxis und lege mich auf die Klangwoge, in tiefer Dankbarkeit, dass Menschen dies erfunden und gestaltet haben. (Caspar Harbeke und Silke Hausser, ALLTON OHG in Bad Zwesten)

Was noch? Lesen. Fachliteratur ist neben allem anderen auch Selbsterfahrung. Wie war das noch mit meinen Prägungen und Übertragungen? (Derzeitige Lektüre: Eva-Lotta Brakemeier, Angela Buchholz, Die Mauer überwinden, Wege aus der chronischen Depression, Weinheim 2013)

Was noch? Die Kunst. Jemand zeigte mir einen Katalog. Die Bilder haben mich tief berührt. Das Foto einer Skulptur sprach mich in meiner Existenz an.

Skulptur „Mitgefühl“ Heike Fischer-Nagel 2019, Foto © Ulrike Roderwald

Nein, ich werde es nicht zerfleddern in Worten, ich will behutsam bleiben. Kunst spricht zu meinem Unbewussten, sie hat ihre eigene Sprache.

Und weil das so ist, will ich die Künstlerin hier mit Fotos von ihrem Flyer würdigen:

Ich will mit Euch, mit Ihnen eine Erlebensmöglichkeit teilen, schaut hin, schauen Sie hin und horche, horchen Sie in sich hinein, lass Dich, lassen Sie sich berühren!

Es gibt dich

Dein Ort ist

wo Augen dich ansehen.

Wo Augen sich treffen

entstehst du.

Von einem Ruf gehalten,

Immer die gleiche Stimme,

es scheint nur eine zu geben

mit der alle rufen.

Du fielest,

Aber du fällst nicht.

Augen, fangen dich auf.

Es gibt dich,

weil Augen dich wollen,

dich ansehen und sagen,

dass es dich gibt.

Hilde Domin

Eine gute Zeit!