Jobst Finke schreibt in seinem Buch Träume, Märchen, Imaginationen. Personenzentrierte Psychotherapie und Beratung mit Bildern und Symbolen im dritten Teil folgendes über Märchen: „Märchen ermutigen zum phantasierenden Tagträumen und zu Sehnsuchtsvorstellungen. Sie aktivieren damit ein utopisches Potenzial. Sie erlauben uns, Wünsche zu haben und uns in unserer Sehnsuchtsstruktur zu erkennen. Wenn wir uns, z. B. in Tagträumen eine fiktionale Welt entwerfen, erfahren wir etwas Wichtiges über uns selbst.“
„Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist.“ Diese Formulierung wird Kierkegaard zugeschrieben, hier zitiert nach Rogers. In der Psychotherapie formulieren Klient_innen neben dem Wunsch, eine Belastung nicht länger zu erleiden und mehr Leichtigkeit zu spüren auch die Sehnsucht, authentisch zu agieren, sich als lebendiges Selbst zu erleben. Sie haben manchmal die Idee, etwas verloren zu haben, was früher einmal selbstverständlich war, zum Beispiel eine stärkere Spontaneität oder größeren Mut. Im Verlauf der Therapiestunden taucht die Idee dessen auf, was in der Zukunft das Selbst der Klienten ausmachen werde. Für mich fasse ich diesen Teil des Prozesses in dem biblischen Begriff „Ich bin, wer ich sein werde“ zusammen. Es ist schon da, als Keim, als verschüttete Präsenz, in der Fähigkeit zur Vorstellung ist es bereits Teil des suchenden Menschen.
Zurück zu Finke: Dort fand ich den Verweis auf das Märchen „Die Gänsemagd“. Ich habe das Märchen im Web gefunden, es ist recht lang, ich erlaube mir, die Zusammenfassung bei Wikipedia zu benutzen. Allen, die tiefer einsteigen wollen, hilft die Browsersuchfunktion.
„Eine Königin, deren Mann vor langer Zeit gestorben ist, schickt ihre einzige Tochter weit fort zur Hochzeit mit einem Königssohn. Sie gibt ihr eine Magd mit, ein sprechendes Pferd namens Falada und als Reisetalisman ein Tuch mit drei Tropfen von ihrem Blut. Die Tochter verliert dieses Tuch aber, als sie sich über einen Bach beugen muss, weil die Magd sich weigert, ihr mit dem goldenen Becher Wasser zu reichen. Die Magd zwingt die Prinzessin sogar, die Pferde und Kleider zu tauschen und lässt sie anschließend schwören, keinem Menschen davon zu erzählen. All das duldet die Prinzessin demütig. Als sie in vertauschten Rollen beim Schloss ankommen, empfängt der Prinz die Magd als seine Braut, und der alte König schickt die Königstochter mit einem kleinen Jungen namens Kürdchen zum Gänsehüten. Dem Pferd Falada lässt die falsche Braut den Kopf abhacken, weil sie fürchtet, von ihm verraten zu werden, aber auf Bitten der Königstochter nagelt der Schlachter den Kopf unter das Tor, durch das sie und Kürdchen täglich mit den Gänsen gehen. Dort redet die Prinzessin jedes Mal im Vorbeigehen mit dem Pferdekopf, der sie mit „Jungfer Königin“ anspricht. Auf der Gänsewiese öffnet sie ihre goldglänzenden Haare, um sie neu zu flechten, und Kürdchen versucht, ihr ein paar Haare auszuraufen. Aber sie spricht einen Zauberspruch, mit dem sie einen Windstoß herbeiruft, der dem Kürdchen das Hütchen vom Kopf weht. Er muss ihm nachlaufen, und bis er zurückkommt, ist sie mit der Frisur fertig. Kürdchen beschwert sich beim König, und der beobachtet die beiden nun heimlich am folgenden Tag, findet auch alles, wie von Kürdchen berichtet. Am Abend nimmt er die Königstochter beiseite und verlangt eine Erklärung. Aber sie weigert sich zu sprechen mit Hinweis auf den geleisteten Schwur. Da lässt der König sie dem Ofen ihr Leid klagen und belauscht sie dabei unbemerkt. Der Königssohn erfährt die Wahrheit. Der König lässt die falsche Braut ihr eigenes Urteil sprechen, und sie wird in einem mit Nägeln beschlagenen Fass zu Tode geschleift. Eine prächtige Hochzeit wird gefeiert.“
Bei Wikipedia finden sich auch Verweise auf Deutungen von psychologischer Seite. Da wird den goldenen Haaren das Licht des Bewusstseins zugesprochen, Bruno Bettelheim findet manche Hinweise auf einen Ödipuskonflikt, ein anderer Autor diagnostiziert eine abhängige Persönlichkeitsstörung bei der Prinzessin und Narzissmus bei der Magd. Auch Jobst Finke wird erwähnt, seine Klientin arbeitet an dem Märchen ihre Wünsche und Sehnsüchte heraus.
Welche Themen finde nun also ich in dem Märchen?
Die alte Königin bleibt blass in der Beschreibung, gleichwohl erscheint sie sehr mächtig. Sie trifft die Entscheidungen. Die schöne Tochter wird verheiratet und in die Ferne geschickt. Gold und weitere Schätze bekommt sie mit, zwei Pferde und eine Magd. Dies wird als Ausdruck ihrer Liebe zu ihrem Kind benannt. Die Tochter scheint ohne Widerspruch zu sein. Drei Tropfen Blut auf einem Tuch sollen sie schützen. Dieses Tuch verliert die Prinzessin recht bald. Die Magd stellt ich als äußerst durchsetzungsfähige Person heraus, die ihre Interessen brutal einfordert.
Die Prinzessin bleibt duldsam. Mir fällt auf, dass sie das brutgetränkte Tuch verliert, ohne es zu merken. Auch beklagt sie den Verlust nicht. Nun, geholfen hatte es ohnehin nicht, denn was sollte der Nutzen sein von Blutstropfen, die zum Ausdruck bringen, dass die Mutter nicht zufrieden wäre mit dem Verlauf der Geschichte?
Die Magd verweist die Prinzessin darauf, dass sie als Dienerin nicht zur Verfügung stehe. Mach selber! Die Prinzessin tut es, sie lässt sich die Schätze abnehmen, das Pferd schlachten, zum Gänsehüten schicken. Angst, so sagt der Märchentext, liege dem zu Grunde. Wenn ich den lakonisch erzählten Verlauf auf mich wirken lasse, scheint mir etwas anderes möglich: Sie weiß noch gar nicht, wer sie ist, was sie möchte und was nicht. Sie scheint sich selbst gegenüber eigenartig abständig. Alles egal?
Keine Vorstellungen vom Bräutigam spielen eine Rolle, keine vom fremden Land, vom künftigen Leben. Na dann: Eh alles wurscht, hier Magd, haste alles, was mir die Mutter mitgab. Die Blutsverbindung ist schon entschwommen. Nur die Magd hatte davor noch etwas Respekt gehabt, jetzt fühlt sie sich sicher. Die Prinzessin hatte keine Idee von einem Schutz durch die Mutter. Die sie ja auch mal so eben losgeschickt hatte in doch etwas prekären Umständen…
Die Prinzessin ist bei vielerlei gleichgültig. Nur den Kopf des sprechenden Pferdes, den will sie nicht hergeben, zu dem hält sie Kontakt. Den spricht sie an: „O du Falada, da du hangest“ und der Kopf antwortet ihr, wann immer sie vorbei kommt. Dieses Pferd hatte alles mit angesehen und im Gedächtnis verwahrt. Das Pferd weiß auch, dass die Zukunft der Prinzessin anders gedacht war. Und von hier kommt letztlich auf Umwegen die Rettung: Der in seinen Ansprüchen zurückgewiesene Junge geht petzen, der Schwiegervater forscht nach, aber die Prinzessin fühlt sich an eine Norm gefesselt und kann nichts von dem berichten, was ihr widerfahren ist, nur dem Ofen, dem sagt sie es. Sie weint und klagt ihr Unglück heraus. Da wendet sich das Blatt.
Dem übergriffigen Jungen gegenüber wahrte die Prinzessin zuvor das erste Mal ihre Unversehrtheit: Meine Haare kriegst Du nicht! Da kann ich sogar die Winde zu Hilfe rufen! Hier steht sie zu sich und hier weiß sie um ihre Kräfte! Und der, der an ihnen scheitert, trägt zu der folgenden Wandlung wesentlich bei!
Die ränkeschmiedende Magd erfährt vernichtende Rache. (Praktisch, dass diese von den männlichen Parts ausgeht, die Prinzessin bleibt schön unschuldig, aber das nur am Rande.)
Und nun herrschen Friede und Seligkeit.
Als psychotherapeutisch Tätige ist für mich der sprechende Pferdekopf das Unbewusste, das, was du abhacken und annageln kannst, es redet weiter, bis jemand seine Botschaft hört und versteht.
Der Ofen, na, das ist die therapeutische Situation. Hier kann jede Prinzessin alles sagen und berichten, sie bricht kein Schweigegelübde, denn hier ist alles sicher bewahrt. Indem aber mal ausgesprochen wurde, was Sache ist, kann die Wahrheit sich ihren Weg nach draußen bahnen.
Die Prinzessin im Märchen bleibt auch beim Happy-End passiv, aber der unwillkürliche Anteil ihres Selbst hatte eingegriffen. Die Prinzessin wird sie selbst. Hoffentlich glücklich und zufrieden.
Na, mal wieder Märchen lesen?
Eine gute Woche!