Der Panther, der Tiger, der Löwe: Metaphern

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke, 6.11.1902, Paris

Als ich das Gedicht das erste Mal hörte, weinte ich. Bis heute ist es für mich die Metapher für ein zerstörtes Leben. Die Kraft ist anscheinend noch da, sie kann aber nicht genutzt werden, ohne dass es einen Willen dazu gäbe. Der betäubte Wille wiederum benötigt für seine Wiedererweckung eine Vorstellung, ein Bild von dem, wie es anders sein könnte. Es kann auftauchen und in den Körper fahren, der dann zur Aktion bereit sein könnte – wenn es diese Stäbe nicht gäbe. Und da es sie gibt, verglimmt das Feuer, erlischt. Die Seele, das Herz wird nicht erreicht.

Auch Menschen leben auf dieser Erde, denen die gewaltigen äußeren Umstände alles nehmen, was ihnen noch die Möglichkeit gäbe, ihre Kräfte zu nutzen. Deren Leben so aussichtslos ist, dass die inneren Bilder das Herz nicht mehr erreichen können. Diejenigen, denen es besser geht, werden es in der Regel ausblenden, müssen es ausblenden, weil es einfach schlimm ist, sich so eine Existenz vorzustellen und nicht zu wissen, was zu tun wäre. Wir sehen die Tagesnachrichten und sie erreichen unser Herz oft nicht.

Meine Motivation, zunächst als Lehrkraft für Menschen mit besonderen Erschwernissen und nun als Heilpraktikerin für Psychotherapie, für wenigstens ein paar an Leib und Seele Leidende da zu sein, hat vermutlich dort eine ihrer Wurzeln: Im Wunsch, dort, wo es nicht ganz und gar aussichtslos ist, dort, wo es Hoffnung auf die Wiedererlangung der Kräfte und der Wirksamkeit der Vorstellungen gibt, das Meine zu tun. Darin, ein wenig dazu beizutragen, das Leiden in der Welt zu mindern.
Das kann ich nur, wenn ich den Glauben daran behalte, dass es diese Möglichkeit gibt, dass es diese Kraft im Menschen gibt, sich zu befreien und aus den Bahnen auszubrechen, die einmal vorgezeichnet waren, aber nicht für das ganze Leben wirksam sein müssen. Die gemeinsame Suche nach den inneren Bildern, nach der Vorstellung von einem besseren Leben des unter seinen Einschränkungen leidenden Menschen ist es, die mir die Motivation immer wieder aufs Neue gibt, diese Arbeit zu tun. Bei der gemeinsamen Suche werden die Möglichkeiten oftmals nach und nach erkennbar.  

Eine andere Geschichte: Ein Tiger lebt seit seiner Geburt in einem Zookäfig. Er schläft, er frisst, ansonsten läuft er hin und her. Kurze Strecken im engen Käfig. Missgelaunt scheint er zu sein, die Vorübergehenden schaut er an. Diese sehen, was sie sehen wollen, oder aber sie sehen, was sie selbst von sich kennen. Manche_r sieht viel Traurigkeit, andere sehen Zorn, wieder andere Resignation.
Vom Fortgang der Geschichte wird erzählt, wie dem Tiger ein größerer Käfig gegeben wurde, deutlich größer, mit mehr Bewegungsfreiheit. Der Tiger aber läuft genau die Bahnen, die er von vorher kennt. Hin und her, mit eben der Stimmung, die er dabei schon lange hatte, damals im kleinen Käfig.

Manchmal genügt es einem Tiger nicht, nur einen größeren Käfig zu bekommen, um den Impuls für größere Bewegung zu spüren. Was wäre, wenn dieser Tiger behutsam ausgewildert würde, vielleicht in einen weiträumigen Wildpark? Wenn er eine Weile bräuchte, er zunächst seine Angst zu überwinden hätte, dann aber seinen Ort vor dem Auswilderungstransportkorb verließe – könnte er zu seiner Kraft und seiner Wildheit zurückfinden?
Ein hilfesuchender Mensch wird im Verlauf einer Therapie vielleicht bemerken, dass die Lösung nicht innerhalb des inzwischen größeren Käfigs liegt, den er sich mit seinem veränderten Denken anders anschaut als bisher, und in dem er sich auch durchaus befreiter bewegen kann – ihm dies aber nicht genügt, weil das Leiden blieb? Manchmal muss es mehr sein. Manchmal muss es auch die Veränderung im Außen geben.

In der inzwischen durch Bernhard Trenkle schon fast berühmt gewordenen Löwengeschichte verlässt ein Löwe sein angestammtes Revier in der Wüste, wo ihm alles sehr gewöhnlich geworden ist: die fehlende Pflanzenwelt und der ständige Wind, der die Wasseroberflächen der brackigen Wasserlöcher kräuselt. Er kennt es, er ist seiner selbst müde. Er geht fort und je weiter er geht, desto mehr verliert er seine alten Orientierungen aus dem Auge. Noch nimmt er nichts um sich herum wirklich wahr. Er sieht und er sieht nicht.
Endlich bekommt er Durst und wird von dem Duft des Wassers in einem Teich angezogen. Hier am Teich ist es windstill und als er den Kopf zum Wasser beugt, sieht er einen großen starken Löwen im Wasser. Er erschrickt und legt sich unter einen Baum, um zu warten, bis der andere Löwe weg ist. Irgendwann wird er sehr durstig und will den anderen Löwen mit Gebrüll verscheuchen, aber dieser reißt sein Maul furchterregend weit auf. Der Löwe, voll Angst, legt sich zurück unter den Baum. Während er vor sich hin träumt, erinnert er sich wieder daran, wie es damals war, als er noch ein kleiner Löwe war. Wie er versucht hat, Schmetterlinge zu fangen – ohne Erfolg zwar, aber es war egal, wie er Steine umgedreht hat ohne zu wissen, was drunter war und es gab keine Angst, wie sich seine Neugier und Entdeckerfreude immer wieder auf Neues richtete.
Schließlich steht er auf, geht zum Teich und senkt sein Maul ins Wasser, und da war kein anderer Löwe mehr und er trinkt und trinkt, bis sein Durst gelöscht ist.

In dieser Geschichte kehrt der Löwe zwar zurück, er ist aber ein anderer geworden, er sieht und sieht wirklich, hört und hört wirklich, läuft und spürt sich im Laufen. Es ist eine Veränderung geschehen  durch seine Erinnerung an frühere Kräfte, die er vergessen hatte, durch das Wissen darum, dass er nicht in der Wüste bleiben muss, dass es Gegenden mit frischem Wasser und freundlichen Lüften gibt und dass er sich nicht länger fürchtet vor seiner eigenen Kraft als großer Löwe.

Bis es so weit ist, kann es dauern bei uns Menschen. Mit einer Geschichte allein wird es nicht getan sein, bis wir uns an unsere Träume erinnern und unserer Kraft vertrauen. Wichtig scheint mir, ist es den Kontakt zu den inneren Bildern nicht zu verlieren, wie es vielleicht tatsächlich einmal anders war oder es auch nur in unserer Vorstellung als ersehnte Alternative existiert: Damit uns die Kraft in die Glieder fährt und nicht im Herzen verlöscht, sondern wir in Bewegung kommen – aus inneren Käfigen heraus ebenso wie aus äußeren.

Eine gute Woche!