Eine kleine Geschichte vom Behüten

Die Geschichte ist von Ortwin Meiss, Milton Erickson Institut Hamburg.
Hat er so mal einer Mutter erzählt, die allen Unbill von ihrem Sprössling fernhaften wollte

Der Baum

Ein Gärtner beabsichtigte einen schönen neuen Baum zu pflanzen. Er sollte die be­sten Vor­aus­set­zun­gen zum Wach­sen ha­ben, ein­fach die be­sten, die ein Baum nur ha­ben kann. Al­so hob er­ weit­räu­mig um­ die Ein­pflan­zungs­stel­le den Bo­den aus und ent­fern­te al­le Stei­ne und al­les was den Wur­zeln des Bau­mes im We­ge sein konn­te.

Dann nahm er die wei­ch­ste und locker­ste Er­de, die zu fin­den war, und schüt­te­te sie in die vor­ge­gra­be­ne Ver­tie­fung und setz­te den jun­gen Baum hin­ein. Die Wur­zeln soll­ten es so leicht wie mög­lich ha­ben, sich ih­ren Weg zu bah­nen. Ja sie soll­ten sich un­ge­hin­dert ent­fal­ten kön­nen und sich nicht durch har­ten Bo­den kämp­fen müs­sen, und kein Stein, soll­te ih­re Bah­nen stö­ren.

Der Baum wuchs schnell in die wei­che Er­de hin­ein und be­gann sei­ne Wur­zel in ihr aus­zu­brei­ten und mit al­ler Kraft schoß er in die Hö­he. Der Gärt­ner sah es mit Freu­de, gab dem Baum die be­ste Dün­gung und schnitt ihm den Weg zum Licht frei, in­dem er al­le Pflan­zen in der Um­ge­bung be­sei­tig­te. So brauch­te der Baum sich nicht mü­hen und hat­te Nah­rung, Licht und Hel­lig­keit im Über­fluß. Schließ­lich war er zu be­trächt­li­cher Hö­he em­por­ge­schos­sen.

Da ge­schah es, daß ei­nes Ta­ges ein gro­ßer Sturm her­an­zog und mit ge­wal­ti­gen Böen über das Land brau­ste. Der Wind griff nach dem Baum und zerr­te an sei­nen Zwei­gen und Ästen und da­ die Pflan­zen in der Um­ge­bung al­le kurz ge­hal­ten wa­ren, traf ihn die Ge­walt des Stur­mes schutz­los.

Gleich­falls wä­re es für ei­nen Baum die­ser Grö­ße ein Leich­tes ge­we­sen, dem Sturm zu wi­der­ste­hen, doch die Wur­zeln grif­fen nur in wei­chen Bo­den, fan­den kei­nen Halt und kei­nen Stein, den sie um­klam­mern konn­ten. Nir­gend­wo hat­ten sie sich durch­ge­kämpft, nir­gend­wo sich Platz schaf­fen müs­sen. So drück­te der Sturm den schö­nen Baum zur Sei­te, riss ihn mitsamt sei­nen Wur­zeln aus und warf ihn zu Bo­den.

Ortwin Meiss