Diese Woche denke ich hier auf meiner Seite über „Arbeit“ nach. Wie komme ich darauf?
Es war der Titel eines Artikels in einer Regionalausgabe eines Anzeigenblattes, mit dem auf eine Info-Veranstaltung hingewiesen wird. Er lautet:
„Ich bin depressiv – Arbeit gibt Struktur.“ Uups. Der Titel ist zwar in Redezeichen gesetzt, so wie hier, aber leider ist nicht vermerkt, woher der Satz stammt. Aus einer Veröffentlichung? Von einem Betroffenen? Aus der Gedankenwelt des / der Schreibenden?
„Arbeit gibt Struktur“. Ist das so? „Gibt“ irgendetwas Äußeres einem Menschen irgendetwas?
Einem Säugling die Brust geben bedeutet, sie ihm hinzuhalten. Er nimmt sie selbst.
Einem Baby kann ich Nahrung bis zu seinem oder gar in seinen Mund geben – schlucken oder spucken wird er selbst.
Alles andere wäre Zwangsernährung. Mit offenem Ausgang. Bei einer Versorgung mit einer Nährlösung mittels Tropf bei einem Menschen ohne Bewusstsein – da wird etwas gegeben. Womöglich wendet nun ein*e physiologisch Gebildete*r ein: Hoppla, der Körper entscheidet, wie er das Angebot verarbeitet! Wer weiß… Bei Operationen mit Einpflanzungen von z. B. einem künstlichem Gelenk wird das ganz deutlich.
Umso mehr gilt es bei allem, was der Psyche dargeboten wird: Diese entscheidet, wie es verarbeitet wird! Strukturen kann ich zur Verfügung stellen, nicht geben. Mit der Ermöglichung von Arbeit stelle ich Strukturen zur Verfügung. Der Mensch in Depression wird entscheiden, ob und wie er auf diese Strukturen reagiert.
Aber ist es nicht blödsinnig von mir, bei einem Titel einer solchen Publikation die „Worte auf die Goldwaage zu legen“, wie meine Mutter das immer nannte?
Nun, schau’n wir zunächst weiter: Da heißt es im Artikel etwa, dass bei Menschen, die aufgrund einer Depression ihren Job verloren haben, der Wunsch nach Gemeinschaft bestünde – und zwar gerade durch Arbeit.
Aha! Das Bedürfnis heißt „Gemeinschaft“! Nicht Arbeit. Hm. Es gibt sicherlich Arbeitsstellen, bei denen dieses Bedürfnis nach Gemeinschaft erfüllt wird. Ist dieses hier und heute der Standard? Urteilen Sie selbst!
Gemeinschaft kann an vielen Orten gefunden werden, mit Unterstützung, wo es nötig ist.
Noch bedenkenswerter scheint mir, dass
hier augenscheinlich eine Gleichung Arbeit
= Erwerbsarbeit aufgestellt wird. Wie komme ich darauf? Das schließe ich
aus dem Artikel selbst und der Auswahl der Expert*inn*en der Infoveranstaltung.
Dazu später mehr.
Arbeit, nehmen wir es diesmal als Bedürfnis, ist weit mehr als Erwerbsarbeit.
Arbeit in und für die Familie, das ist Ihnen als unbezahlte Arbeit geläufig. (Dürfte
gern mit mehr Einkünften verknüpft sein, aber das ist ein weiteres Thema.)
Es gibt – hallo Marx – den Begriff der Reproduktionsarbeit. Damit ist gemeint,
dass wir uns mit unserer Selbstversorgung und Erholung in den Stand versetzen, erneut
der Erwerbsarbeit nachzugehen. Jeden Tag. Manchmal dient auch Psychotherapie
diesem Ziel.
Ein Klient mit Depression, der nie Marx gelesen hat, fragte anhand des Ablaufs von
Arbeit und Reproduktionsarbeit unlängst in meiner Praxis nach dem Sinn des
Lebens. Seinen Sinn fand er nicht in der Erwerbsarbeit, obgleich er sie gern
tut und auch das Geld mag, das er dafür bekommt. Sinnsuche, ein Mensch in
Depression ist häufig damit beschäftigt!
Was ist also menschliche Arbeit? Was sagt das Netz? Das zum Beispiel: Arbeit
… ist eine planvolle Tätigkeit, mit der man Ergebnisse erzielt oder Produkte schafft
… ist zielgerichtete, soziale, planmäßige und bewusste, körperliche und geistige Tätigkeit
Und Wikipedia listet unter dem Stichwort Arbeit: (Zitat, Verlinkungen entfernt)
– Arbeit (Betriebswirtschaftslehre), plan- und zweckmäßige Tätigkeit von Arbeitspersonen
– Arbeit (Philosophie), Prozess der bewussten schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen
– Arbeit (Physik), Energiemenge, die bei einem Vorgang umgesetzt wird
– Arbeit (Sozialwissenschaften), zielbewusste, sozial durch Institutionen begründete menschliche Tätigkeit
– Arbeit (Volkswirtschaftslehre), einer der Produktionsfaktoren in der Volkswirtschaftslehre
– Beruf, mit besonderer Fähigkeit oder spezieller Qualifikation ausgeübte Erwerbsarbeit
– Erwerbstätigkeit, Tätigkeit zur Einkommenserzielung
– Klassenarbeit, Leistungskontrolle in der Schule
– Kritik der Arbeit
– Kunstwerk (z. B. „die Arbeit des Künstlers“)
– Lohnarbeit, Erwerbsarbeit eines abhängig Beschäftigten für Lohn oder Gehalt
– wissenschaftliche Arbeit, Produkt einer Forschungstätigkeit
– Beschäftigungsverhältnis
(Zitatende) Wow, das ist doch mehr als Erwerbsarbeit!
Und erst im dortigen Unterpunkt zur Philosophie: „Die Arbeit im philosophischen Sinn erfasst alle Prozesse der bewussten schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen. Sinngeber dieser Prozesse sind die selbstbestimmt und eigenverantwortlich handelnden Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Anschauungen im Rahmen der aktuellen Naturgegebenheiten und gesellschaftlichen Arbeitsbedingungen.“ Schon wieder Wow. Selbstbestimmt und eigenverantwortlich!
Schön auch der Unterpunkt der Sozialwissenschaften: „Arbeit ist eine zielbewusste und sozial durch Institutionen (Bräuche) abgestützte besondere Form der Tätigkeit, mit der Menschen seit ihrer Menschwerdung in ihrer Umwelt zu überleben versuchen.“ Also Arbeit als Funktion des Überlebens, lange bevor es Erwerbsarbeit gab!
Ich denke, mit Arbeit können wir in unserer Umwelt Strukturen schaffen, ändern, abschaffen, wenn die Bedingungen dafür stimmen und wir handeln können.
Aber eng gefasst, kurz gedacht als Erwerbsarbeit – das scheint mir nicht d e r Weg zu sein, der einer Bedürfniserfüllung dient. Auch nicht d e r Weg zur Gesundung. Sie zu erreichen ist ein mögliches Ziel unter vielen anderen denkbaren.
Hier verlasse ich den gelesenen Artikel und schaue auf die geladenen Expert*inn*en der im Artikel vorgestellten Informationsveranstaltung und schaue mir den Flyer dazu an. (Schmöger-Stiftung, Einladung zum 3. Trialog (…) Dieser fragt im Titel „Depression – wie gelingt (neue) Teilhabe am Leben durch Arbeit?“
Geht es hier doch ausschließlich um Erwerbsarbeit? Ich hoffe nicht!
Allerdings… Vertretende
– von arinet, Beratung, Unterstützung, Vermittlung für Arbeitssuchende,
– von der Abteilung Reha bei der Rentenversicherung Bund, mit dem Ziel, dass gesundheitlich Beeinträchtigte im Erwerbsleben verbleiben und so die Regelaltersgrenze für den Bezug der Rente erreichen und bis dahin ins Rentensystem einzahlen,
– von der Bundesagentur für Arbeit, deren Aufgabe ist bekannt….
Sie bestreiten die Debatte nebst einer Psychiaterin, einem Sozialpädagogen der hiesigen Psychiatrischen Tagesklinik, einem Ergotherapeuten, einer Angehörigenbegleiterin und einem Genesungsbegleiter …
Nun ist es in unserer Gesellschaft – bisher – schwer, „am Leben“ einigermaßen selbstbestimmt teilzuhaben, wenn das Geld nicht ausreicht. Schon schon.
Da kommt mir wieder die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen in den Sinn. Damit ginge es. Gesund werden zu können und Gemeinschaft zu erleben und Teilhabe auch außerhalb von Erwerbsarbeit finden zu dürfen: Das finde ich erstrebenswert! Ein gutes Vorhaben wäre es, dies alles in unserer reichen Gesellschaft für Erkrankte zu ermöglichen!
Auch ohne das bedingungslose Grundeinkommen möchte ich, dass psychisch Erkrankte ein breites Angebot erhalten, zur Teilhabe, um Gemeinschaft zu erleben und auch Struktur – und dass eine Engführung in Richtung Erwerbsarbeit vermieden wird.
Zum Schluss ein kleiner Auszug eines Textes von Heinrich Böll, von ihm erarbeitet zum 1. Mai 1963:
Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral
In einem Hafen an einer westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und döst. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren. (…) Der Fischer wacht auf. Der Tourist: „Sie werden heute einen guten Fang machen.“ Kopfschütteln des Fischers. Er will nicht ausfahren. Er war nämlich schon draußen. Es reicht bis übermorgen.
Der Tourist: Wenn der Fischer aber täglich mehrfach ausfahren würde, dann könnte er sich bald einen Kutter kaufen, noch mehr fangen, und „Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisung geben, Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren – und dann…“ – „Dann“, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann könnten Sie beruhigt hier im Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.“ –
„Aber das tu ich ja schon jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“
Tatsächlich zog der solcherlei belehrte Tourist nachdenklich von dannen, denn früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages einmal nicht mehr arbeiten zu müssen, aber es blieb keine Spur von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, nur ein wenig Neid.
Eine schöne Woche!
Ulrike Roderwald