Orientierung

Ich hole mal etwas aus. Am Wochenende habe ich mir einen Workshop gegönnt, der für mich aus dem Rahmen fällt: einen Grundlagenkurs zur Selbstverteidigung. Das war interessant.

Nebst der Übung der Körper-Koordination, Standfestigkeit, Schnelligkeit und Kraft, vielen guten Übungen zur angemessenen Reaktion bei einer Bedrohung oder einem Angriff, war für mich auch spannend, zu erleben, dass und wie ich mich körperlich wehren kann.
Für etliche Situationen kann ich nun feststellen, dass im Kopf die Bereitschaft geweckt werden kann, dies überhaupt zu tun. Denn das heißt ja zum einen, ich trau mir was zu, zum anderen aber auch, ich bin bereit, notfalls einer angreifenden Person wehzutun. Ich bin da nicht eben pazifistisch eingestellt. Angreifer gehen grundsätzlich das Risiko ein, eine passende Antwort zu erhalten.
Dennoch kann es sein, dass eine sogenannte Schlaghemmung die eigene Abwehrhandlung verhindert oder ungünstig verzögert. Dass ich neu lernen kann, was ich als Kind anders gelernt habe (Mädchen hauen sich doch nicht…), fand ich gut. Es passt zu meiner grundsätzlichen Einstellung als Psychotherapeutin. Ich kann auch hauen, wenn es sein muss, das weiß ich nun. Es ist lernbar.

Thema war beim Workshop auch,  mit Aufmerksamkeit zu erreichen, dass die brenzlige Situation gar nicht erst eintritt. Es ging um Verhaltensweisen, die ich Orientierung nennen möchte. Aufmerksamkeit  ist eine der Grundlagen für Orientierung. Laufe ich mit Ohrstöpseln meines Smartphones durch die Gegend, habe ich meine Aufmerksamkeit bei der Musik oder dem Hörbuch oder dem Telefonat – orientiert bin ich nur mangelhaft. Dass nicht mehr Menschen zusammenstoßen, wundert mich immer wieder. Laufe ich im Dunkeln mit dem Blick auf mein erhelltes Smartphone herum, sehe ich erstmal nix, wenn ich den Blick erhebe. Grübele oder träume ich vor mich hin, hilft es der Orientierung auch nicht. Ich sollte wissen, wo ich das tue – und wo lieber nicht.

Orientierung fängt durchaus bei mir selbst an, bei der Aufmerksamkeit für mich. Wie bin ich drauf? Wie geht es meinem Körper, bin ich fit? Was braucht mein Körper, um sich gut und sicher zu fühlen? Trage ich Schuhe, in denen ich schmerzfrei laufen kann, habe ich für Nahrung und für meinen Wasserhaushalt gesorgt? Bin ich wettergerecht gekleidet? Falls nicht, habe ich schon nicht so gute Voraussetzungen für meine Orientierung im Außen, denn ich beschäftige mich notgedrungen mit meinem Mangelzustand, gehe zum Beispiel mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf durch die Kälte. Ich werde nicht unbedingt als wehrhaft angesehen, wenn ich das tue. Auch darum sollte ich gut für meinen Körper sorgen. Und der Körperteil namens Kopf braucht auch das Seine: ausreichend Schlaf zum Beispiel, genügend Ruhe und genügend Anregung, beides, um seine Aufmerksamkeit gut steuern zu können.

Orientierung im Außen, um sich, wenn nötig zu schützen – schöner wäre, dies wäre nicht nötig. Schade, es ist anders. Ich rede hier nicht einer Haltung das Wort, furchtsam oder immer mit dem Schlimmsten rechnend durch die Gegend zu laufen. Nein, ich meine Orientierung als Ressource, als Kompetenz. Mit Orientierung entscheide ich mich, bei diesem schönen Wetter einen kleinen Umweg durch den Park zu nehmen, die Veränderungen des Herbstes wahrzunehmen, die Menschen um mich herum mit Interesse zu sehen, Neues zu erleben.
Meine Orientierung hilft mir beim Schönen und beim Gefährlichen auch, ohne dass ich in ständiger Habacht-Haltung bin. Es ist ein Unterschied, ob ich vor lauter Furchtsamkeit neue Wege erst gar nicht gehe, oder mich ständig hektisch umdrehe, ob jemand hinter mir ist und dabei den Stein nicht sehe, über den ich gleich stolpere, oder ob ich mit mir im Reinen meine Umgebung wahrnehme und meine Entscheidungen treffe.
Traumatisierte Menschen neigen dazu, in hoher Erregung fast ständig Gefahren zu wittern, das tut niemandem gut. Es kann auch sein, dass sie aus Furcht alternative Möglichkeiten vermeiden oder sich in sich so sehr zurückziehen, dass sie ihre Umgebung nicht ausreichend zur Kenntnis nehmen. Das kann gefährdend sein.

Nun gibt es einige Möglichkeiten, Orientierung im Außen zu üben. Beginne ich bei mir selbst, nehme ich meinen körperlichen und geistigen Zustand wahr, kann ich mit einem tiefen, genussvollen Atemzug beginnen, nach außen zu schauen und zu hören. Ich kann meine Sinne schärfen für die Temperatur, die Luftbewegungen im Raum, für die Geräusche draußen und drinnen, die Gerüche um mich herum und den Geschmack auf meiner Zunge.
Nun schließe ich die Augen. Mit gesenktem Kopf öffne ich sie und lasse langsam und bedacht den Blick über den Boden zu einem Gegenstand wandern, der vor mir ist. Dorthin, Millimeter für Millimeter und wieder zurück. Ich schließe wieder die Augen und lass die Bilder, die ich gesehen habe, noch einmal vor meinem geistigen Auge vorüberziehen. Habe ich gerade in einer vertrauten Umgebung etwas entdeckt, das anders war als sonst? Vermisse ich etwas? Ist etwas überflüssig und kann mal weg? Habe ich etwas wieder entdeckt? Das Bild an der Wand habe ich lange nicht angeschaut, das da in meinem Blickfeld am Rande war. Das hole ich jetzt nach. Habe ich den Abstand wahrgenommen zwischen mir und der gegenüberliegenden Wand? Ich probiere das noch einmal aus.
Ich stehe auf und drehe mich langsam um mich selbst, lasse den Blick schweifen und nehme alles wahr, soviel ich verarbeiten kann, was in diesem Raum zu sehen ist. Welche Farben und Formen dominieren? Wie ist das Licht?

Dann gibt es die Kinderspiele, die auch wieder verwendet werden können: Jemand legt für mich Gegenstände auf den Tisch, ich schaue sie mir an, eine Decke wird darüber gelegt – an wie viele erinnere ich mich? Nochmal!

Wenn Du so spielerisch übst, wenn Sie so spielerisch Deine / Ihre Aufmerksamkeit und Orientierung üben, im Haus und draußen – sei erfinderisch, seien Sie erfinderisch – dann bemerken Sie, bemerkst Du vielleicht, dass sich ein Empfinden von Sicherheit, von Zuhause-Sein, von Bewohnen dieser Erde entwickelt, das gut tut. Auf dieser Basis ist die Orientierung auf mögliche Gefährdungen schon viel einfacher und wird zur Selbstverständlichkeit. Wie immer: Sie müssen, Du musst es nur tun!