Werde, wer Du bist

Der Satz „Werde, der Du bist“ ist von einem offenbar recht erfolgreichen, aus adeliger Familie stammenden  griechischen Dichter des 6. Jahrhunderts überliefert, Pindar. Von Nietzsche aufgenommen, von Schopenhauer im Sinne von „Erkenne dich selbst“, im chinesischen Tao geht es wohl darum, das wahre Wesen zu erkennen… Verzeihen Sie mir alle unpräzisen Erklärungen, ich bin weder Philosophin noch in fernöstlicher Lehre besonders bewandert.

Mir geht es um meine psychologische und therapeutische Sichtweise. Es ist immer interessant, bestimmte Sätze bei Amazon Bücher einzugeben, da stehen dann Buchtitel ähnlich wie „Du bist nicht deine Gedanken“ und einige Seiten weiter „Du bist, was du denkst“, so einiges geht in Richtung „Du kannst alles schaffen“ in Hinblick auf Erfolg und Glück – Selbstverwirklichung bezogen auf mögliche Wünsche.

Ja, wer bin ich denn?

Der griechische adelige Dichter dürfte davon eine völlig andere Idee gehabt haben als „Normalos“ hier und heute. Denn das, was wir sind, kann niemals geschichtslos und ohne Bezug auf unsere soziale Umwelt gesehen werden.

Dennoch haben viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, den Eindruck, so etwas wie einen Wesenskern zu spüren, wenn sie in sich hineinschauen oder lauschen. Ich teile diesen Eindruck, auch wenn ich weiß, wie sehr ich mich in meinem Leben verändert habe und dass ich dies täglich weiterhin tue. Eine Freundin sprach einmal von einem „roten Faden“.

Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Noch so ein Satz. Den ich auch teile. Jeder Augenblick ist neu und jeden Augenblick trete ich neu in ihn ein.

Und es gibt dieses Spüren eines inneren Kerns, das wir möglicherweise benötigen, um nicht psychisch auseinanderzufallen.

Ganz deutlich wird es in Gesprächen über empfundene Mängel:

  • Ich fühle mich im Moment gar nicht.
  • Ich vermisse meine frühere Lebendigkeit.
  • Ich kann mich gar nicht an mich erinnern, wie war ich in der Jugend?
  • Ich kann nicht mehr weinen.
  • Wann habe ich das letzte Mal lauthals gelacht?
  • Ich weiß gar nicht, was ich will.
  • Ich sage oft nicht das, was ich denke.
  • Ich getraue mich nicht, von mir zu sprechen.
  • Ich zeige meine Bedürfnisse nicht.
  • Ich habe manchmal den Eindruck, man sieht mich gar nicht, ich bin unsichtbar.
  • Meine Kreativität ist irgendwann flöten gegangen….
  • Früher war ich mutiger.
  • Fällt Ihnen auch so ein Satz ein?

Da sind wir auf der Suche nach uns selbst, haben Vorstellungen darüber, wie wir wirklich sind. Der Zugang dazu scheint im Nebel zu liegen.

In den Gesprächen und Übungen in meiner Praxis erlebe ich: Diesen Mangel laut auszusprechen ist der Beginn des sich lichtenden Nebels. Es ist der Beginn der ernsthaften Suche und des Mut-fassens, des sich auf den Weg-machens. Der Weg zu dem, wer wir sind.

Denn wer den Mangel spürt, trägt die Möglichkeit der Veränderung in sich.

Interessanterweise stellt sich manchmal ganz deutlich und klar heraus, dass dies ein Prozess ist, der niemals beendet ist. Ein Geschehen des Augenblicks, jeden Moment neu, nah an unserem Kern, wenn wir es wollen.

Bin ich gerade so, wie ich ahne zu sein? Im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten ich selbst? Im Kontakt mit mir?

Gebe ich mir Zeit, meine Empfindungen wahrzunehmen? Meine Fragen zu stellen? Innezuhalten, um mich zu erinnern? Gehe ich Wagnisse ein, die mich locken und kneife nicht? Sage, was ich im Moment gerade denke und erlaube mir, meine Aussagen zu verändern? Denke ich über meine Lebensziele nach und schaue, ob ich sie verfolge? Habe ich den Eindruck, mir selbst treu zu sein?

Eine gute Woche!