Freund oder Feind?

Wenn wir auf der Straße einer Person begegnen, die wir lange nicht gesehen haben, kann es gut sein, dass wir sie nicht erkennen und dennoch auf sie reagieren: mit Freude oder mit Angst, mit Zuneigung oder mit Ablehnung. Wahrscheinlich geschieht dies eher in milderer Form, aber doch spürbar. Wir empfinden etwas, ohne den Ursprung dafür in diesem Moment zu wissen. In unserem Gedächtnis-Netzwerk wurden Verknüpfungen ausgelöst, ohne dass wir einen bewussten Zugang dazu haben.

Es kann leicht geschehen, dass wir unsere veränderte Gestimmtheit dann den aktuellen Erlebnissen gutschreiben oder anlasten – je nachdem, was wir empfinden.
Das ist weder gut noch schlecht, wir sollten uns darüber lediglich im Klaren sein, damit wir im Hier und Jetzt genügend Abstand und die Bereitschaft zu einem inneren Stopp haben.

Vielleicht ist unser neuer Kollege gar nicht daran beteiligt, dass wir gerade so missgestimmt sind. Wir schauen gerade durch eine getönte Brille, die wir wegen unbewusster Vorgänge aufgesetzt haben, als unser Gedächtnis-Netzwerk auf den Typen im Bus reagiert hat – den von früher, den wir bewusst kaum wahrgenommen haben. Geben wir dem neuen Kollegen die Chance, sich uns zu zeigen, wenn wir aus dem Rad der Missstimmung wieder ausgestiegen sind und die Brille abgesetzt haben!

Oder anders: Unsere rosarote Brille sorgt nach einer nicht bewussten, an Angenehmes anknüpfenden Begegnung für Unbeschwertheit und Risikofreude, und wir trällern ein Lied und unterschreiben in der Fußgängerzone für ein Zeitungsabo, das uns die Straßenverkäuferin so freundlich anbot. Hinterher fragen wir uns vielleicht, wieso wir das gemacht haben. Ein Duft, der an uns vorüber zog, kann damit zusammenhängen. Auch dieser hatte unser Netzwerk aktiviert. Gut, dass wir solche Aufträge stornieren können!

Sanfte, gleichsam atmosphärische Empfindungen helfen uns oft, uns zu orientieren und in sozialen Zusammenhängen wohl, sicher und zugehörig zu empfinden. Treffen wir eine zugewandte, freundliche Person, mit der wir gute Erfahrungen gemacht haben, reagieren wir darauf mit dem ganzen Körper. Dies wird wiederum unserer Umgebung etwas über unseren gegenwärtigen Zustand mitteilen und so erneut zu zufriedenstellenden Kontakten beitragen.

Treffen wir hingegen auf Menschen, die uns in der Vergangenheit übel mitgespielt haben, reagieren wir ebenso mit dem ganzen Körper. Wir sind besonders aufmerksam und gleichen ab, ob es hier sinnvoll sein könnte, in eine Angriffs- oder Abwehrbereitschaft zu gehen. Auch dies teilt sich unserer Umgebung mit. Im günstigen Fall finden sich Menschen bereit, mit uns zusammen aufmerksam zu sein und gegebenenfalls zu unserer Sicherheit beizutragen. Vielleicht sind wir selbst als Teil einer solchen Umgebung schon einmal tätig geworden und haben eine völlig fremde Person gefragt, ob sie Hilfe benötigt – nur aufgrund ihrer Körpersprache.

Immer wieder treffen wir auf einen Menschen, mit dem wir noch gar keine Erfahrung gemacht haben, der in uns jedoch etwas auszulösen scheint, wozu wir dann sofort eine Begründung suchen. Etwas in uns löst Alarm aus.
Wieso reagieren wir misstrauisch? Möglicherweise haben wir tatsächlich einen Hinweis erhalten: Vorsicht! Es kann aber auch sein, dass es nur die Färbung der fremden Stimme war, die das Gedächtnis-Netzwerk in Gang gebracht hat. Und wir da wir dies nicht bewusst beurteilen können, neigen wir dazu, unsere Bewertung für bare Münze zu nehmen und wenden sie auf die unbekannte Person an. Auch hier ist es gut, um diese Zusammenhänge wissend, ein innerliches Stopp zu setzen und zu prüfen: Wie komme ich darauf? Ergebnis offen!

Unsere körperlichen Reaktionen bewusst wahrzunehmen ist ein wichtiges und sinnvolles Tun! Der nächste Schritt ist ebenso wichtig und sinnvoll, nämlich Abstand zu vorschnellen Kognitionen herzustellen und eine Weile Wachsamkeit walten zu lassen – nach innen und nach außen. So lange, bis wir geprüft haben, womit wir es zu tun haben. Damit erreichen wir eine Erweiterung unserer Freiheitsgrade und wir können besser wählen, wie wir uns verhalten wollen.

Folgendes kennen wir doch, so oder ähnlich: Was raschelt laut im am Wegesrand im Unterholz? Wir erschrecken, nur um danach zu erkennen, dass es sich wieder einmal um eine emsige Amsel handelt, die da arbeitet. Wir „kommen wieder runter“, behalten aber noch für eine Weile eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Unsere Reaktion war sinnvoll, es hätte auch etwas weniger Harmloses sein können. Die Reaktion war für unseren Schutz angemessen, ebenso wie die anschließende Überprüfung. Denn diese dient dazu, dass wir nicht in der hohen Erregung verharren, für die es letztlich doch keinen Grund gab.

Haben wir hingegen keine Antennen ausgefahren, mit denen wir mögliche Gefahren erkennen können, sind wir allzu sorglos unterwegs, kann uns das ganz schön in Schwierigkeiten bringen! Wenn wir übersehen, dass uns ein Mensch mit Aggression begegnet und wenn wir uns nicht gestatten wollen, auf „HAB-ACHT“ umzuschalten, bringen wir uns vor möglichen Gefahren nicht in Sicherheit. Wir wissen darum: Manch ein Mensch ist allzu vertrauensselig, will alle Welt für gut halten – aus unterschiedlichen Gründen, leider oft mit üblen Folgen.
Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als unsere Körperreaktionen ernst zu nehmen, wenn wir unserem Sicherheitsbedürfnis entsprechend in der Welt orientiert sein wollen.

Schwierig? Wie das alles unter einen Hut bringen? Vorschlag:

  1. Eine innere Haltung entwickeln, die  sowohl für unsere Umwelt als auch für unsere eigene physische Reaktion eine neugierige und wache Aufmerksamkeit zulässt.
  2. Üben eines konzentrierten Innehaltens, mit Interesse und der Bereitschaft, Neues zur Kenntnis zu nehmen.
  3. Bewertungsprozesse vorzunehmen und Einschätzungen zu prüfen.
  4. Sich für Annäherung oder Vermeidung aufgrund von geprüftem Behagen oder Unbehagen zu entscheiden.

Richtig oder Falsch kann es da nicht geben. Wir nehmen die Welt und uns selbst mit unserem Organismus wahr, wie er sich in unserem Leben eben entwickelt hat. Wir bewerten unsere Erlebnisse mit unseren Fähigkeiten, so wie sie eben sind. Das dürfen wir. Bewusstheit hilft, neu zu denken und häufiger als bisher unseren Zielen entsprechend zu reagieren.

Eine gute Woche!