Demenz?

Als unsere Katze im Alter von etwa 18 Jahren begann, sich anders zu verhalten, anders miaute, einen anderen Tag- Nachtrhythmus zu entwickelte und uns anders anschaute, nannte unser Tierarzt das „wunderlich“. Wir haben sie beobachtet, wir kannten sie gut, wir waren sicher, dass sie unter Schmerzen litt und ihre Veränderungen daher rührten. Das Schmerzmittel half.

Ein Mensch, der im Alter von 90 Jahren beginnt, sich anders zu verhalten, anders spricht und schaut, einen anderen Tag-Nachtrhythmus entwickelt, wird in der heutigen Zeit nicht mehr „wunderlich“ genannt. Ein jeder glaubt zu wissen: Dieser Mensch ist dement. Es ist ja auch möglich, dass das stimmt.

Eine Frau im Alter von an die 80 Jahren vergisst gelegentlich, dass sie einen Termin hat und legt einen zweiten auf die gleiche Zeit. Sie sagt: „Ich muss mir alles aufschreiben!“ Ihr Terminkalender ist voll. Sie ist aktiv in Familie und Gemeinde. Sie fürchtet, eine Demenz zu entwickeln.

Eine Frau leidet unter Parkinson. Sie kommt, da sie ein tapferer und zupackender Mensch ist, gut damit klar. Was immer sie bewältigen kann, behält sie noch in den eigenen Händen. Sie schämt sich nicht ihrer körperlichen Besonderheiten. Zur Einstellung ihrer Medikation kommt sie für einige Tage in ein Krankenhaus, wo ihr nach einem der zur Demenzdiagnostik üblichen Tests eine leichte Demenz attestiert wird.

Eine Frau von 91 Jahren stürzt in ihrer Wohnung mehrfach und kommt nicht vom Boden hoch, wo sie in ihrer Hilflosigkeit von Angehörigen gefunden wird. Eine Pflegedienstleisterin weist nachdrücklich darauf hin, dass die Ursache in einer Harnwegsinfektion liegen kann. Sie lag richtig! Nach Antibiotikagabe hören die Stürze auf.

Eine Frau an die 90 sagt: „Wenn ich mal Hilfe brauche, sage ich Bescheid!“ Als nach Monaten deutlich wird, dass sie diese Hilfe tatsächlich dringend benötigt, der geistige Abbau dominant und unübersehbar wird, finden die Angehörigen in der Wohnung Verhältnisse vor, die über „wunderlich“ doch deutlich hinausgehen. Hier hat ein Mensch sein Leben nicht mehr bewältigt.

Offenbar ist es so, dass die Diagnose „Demenz“ nicht so einfach zu stellen ist. Es ist auch stets zu fragen, was aus der Diagnose an Konsequenzen abzuleiten wäre. Medikamente?

Welche Hilfen braucht der Mensch, der sein Verhalten ändert? Wann ist Hilfe zu früh, wird als übergriffig und entwürdigend empfunden? Wann ist sie zu spät, weil der betroffene Mensch unbemerkt nicht mehr genügend auf seine Ernährung und Pflege achten konnte und nun Not leidet, die hätte vermieden werden können?

Die Beobachtung auf der Basis guten Verständnisses und guten Kontaktes ist für mich der Schlüssel. Ich weiß aber auch, dass bei sehr großer Nähe manches übersehen, fehlgedeutet und verharmlost werden kann. Einfach ist es nicht.

Tests? Kann man machen. Haben für mich als alleiniger Zugang keine Aussagekraft.

Würde ich als heilkundliche Psychotherapeutin über die Krankenkasse abrechnen können, müsste ich eine Diagnose aussprechen. Die Grundlage hierfür Ist hierzulande die Internationale Klassifikation psychischer Störungen, kurz ICD, Kapitel V. Für Demenz bei primärem Parkinson-Syndrom finde ich dort nichts, was meine diagnostischen Bemühungen stützen könnte. „Bisher konnten keine eindeutig kennzeichnenden klinischen Merkmale beschrieben werden.“ (S. 85, ICD-10 Kapitel V (F), 9. Auflage.

Die Bayer Activities of Daily Living Scale, die „Zum Aufdecken von Frühsymptomen einer demenziellen Erkrankung“ entwickelt wurde und für die der Nachweis der Messgenauigkeit und inhaltlichen Gültigkeit erbracht wurde, ist ein Fragebogen für Fremdbeurteilung. Sie wird für die allgemeinärztlichen Beurteilung, für Pflegeeinrichtungen und Betreuungspersonen empfohlen.
Damit fände ich rückblickend zu keiner klaren Einschätzung für jemanden, der inzwischen gesichert als schwer kognitiv eingeschränkt gelten muss.

Da findet ein Mensch immer nach Hause, irrt nie herum, weiß die Personen der Regierung zu benennen, liest noch ein wenig Zeitung und erzählt gern. Was nicht so klappt, hat auch in jungen Jahren nicht so gut funktioniert: schreiben, Geld wechseln, Namen und Daten korrekt zuordnen.
Medikamente einzunehmen wird zur Aufgabe, Termine beim Arzt werden nicht gemacht und offenbar ist nicht präsent, wie die Zeit vergeht.
Dement? Die Unsicherheit besteht.

Immerhin kann die Skala Denkanstöße geben, wenn man unsicher ist. (Wenn Sie hieran Interesse haben, schreiben Sie mir gern eine Mail!)

Ein Pflegeeinrichtungsleiter sagt mir, dass es zahlreiche Menschen mit unerkannter, zumindest im Grad der Beeinträchtigung fehlerhaft beurteilter Schwerhörigkeit gäbe, denen eine Demenz attestiert würde.

Der Demenz-Detektionstest (DemTect) lässt Menschen aus einer vorgelesenen Reihe von konkreten Hauptwörtern (2 x 10, die Reihen sind gleich) die erinnerten wiedergeben. Ok, hier wird das Arbeitsgedächtnis getestet. Auch sollen Zahlwörter in Ziffern geschrieben werden und umgekehrt. Diese kognitive Funktion ist bei manchem Schüler auch nicht so gut. In einer Minute Dinge aufzählen, die man im Supermarkt kaufen kann – das ist für mich noch am ehesten hinweisgebend. Hat jemand allerdings sprechmotorische Einschränkungen aufgrund z.B. eines Schlaganfalls – eine Minute ist schnell um! Hinweisgebend für Demenz? Da sage ich klar NEIN.
Dieser Test führte bei einer Parkinsonpatientin zur Diagnose leichte Demenz! Hierbei haben wir jemanden vor uns, der außer einer gewissen Unordentlichkeit, die als Effekt der motorischen Einschränkungen gesehen werden kann, keine Alltagsprobleme hat, auch da sie sich gut an die Parkinson-Medikation hält.

Eine sehr traurige Person, die gerade ihren Lebenspartner verloren hat, wird klinisch mit dem DemTec überprüft. Es ist uns allen, die jemals sehr traurig waren, aus eigenem Erleben bekannt, dass unsere Merkfähigkeit im Alltag in diesem Zustand leidet.

Die Zuschreibung „Demenz“ macht Menschen Angst. Sie glauben, in eine Zukunft schauen zu müssen, in der sie hilflos herumirren. Die Gazetten machen Menschen Angst, die mit ein wenig Gedächtnistraining und altersentsprechenden Hilfen gut zurecht kommen könnten, dies tun sie dann aber nicht, weil sie eine Demenz-Diagnose fürchten und die Aussichtslosigkeit, die sie damit verbinden und vor allem den Stempel. Angst schadet der Kognition. Willkommen im Teufelskreis!

Cornelia Stolze beschäftigte sich in ihrem Bestseller „Vergiss Alzheimer“ (1. Auflage 2011) mit dieser speziellen Demenz-Diagnose und nennt sie ein Konstrukt, mit dem sich wirkungsvoll Forschungsmittel mobilisieren und Karrieren beschleunigen lassen. Vor allem ginge es um riesige Märkte für Medikamente und diagnostische Verfahren. Ich stimme ihr zu.
Ob die verschriebenen Medikamente den Verlauf des behaupteten Morbus Alzheimer ausbremsen, lässt sich logischerweise nicht belegen, denn wir haben ja keinen Vergleich. Wäre irgendetwas anders, schlechter, fütterte man den alten Menschen nicht mit diesen Medikamenten?

Keine Frage, im Alter erleben wir Einschränkungen. Einige davon hindern Menschen daran, ihren Alltag zu bewältigen. Schauen wir auf das, wo Hilfe nötig wird! Schauen wir, ob sich Ursachen, womöglich behebbare, identifizieren lassen! Suchen wir nach Hilfen.

Medizinische Aufgabe ist die Diagnostik von Durchblutungsstörungen, von Nervenwasseransammlungen im Gehirn, von Diabetes, von fehlangepasster Medikation bei anderen Erkrankungen. Auch Depression und Sucht (auch die Nikotinabhängigkeit!) gehört in die Suche nach den möglichen Ursachen.

Ein gesunder Lebensstil, mit Bewegung, gesunder Nahrung, genügend Flüssigkeit und auch Natrium (!) ist aus vielerlei Gründen im Älterwerden zunehmend wichtig.
Soziale Kontakte und Bindung  braucht der Mensch! Wenn wir auf unsere Alten aufmerksam schauen, sie nicht allein lassen, Diagnosen kritisch bewerten und stets überprüfen lassen, ist schon viel getan. Eine rechtzeitige und wirksame Regulierung der Durchblutung wird manche Ausfallerscheinungen verhindern können!

Und wenn es nicht so ist? Wenn es ohne Pflege, auch stationäre nicht mehr geht? Die Kranken- und Pflegekassen brauchen den diagnostischen Begriff. Die betroffenen Menschen brauchen ihn nicht. Wir im Umfeld auch nicht. Wir können doch sagen, heut hat sie sich nicht erinnert, was es zu Mittag gab. Sie weiß auf manches heute keine Antwort. Morgen vielleicht wieder. Es wird erzählt, sie lacht gern.
Und wenn jemand seltsame Dinge erzählt – wir könnten sagen, unsere alte Dame wird langsam wunderlich…

Sehen wir die Einzelnen in ihrer Einzigartigkeit, sogar im Alter!

Schieben wir sie möglichst in keine der bereitstehenden Schubladen!

In der nächsten Woche werde ich einiges von Naomi Feils Ansatz der Validation berichten! Ihr geht es um die Bedürfnisse und die Einzigartigkeit mangelhaft orientierter Menschen im Alter.

Eine gute Woche!