Zwischenspiel: Achtsamkeit – Mode-Erscheinung, oder hat das Hand und Fuß?

Möglicherweise ist nicht für jede*n Leser*in selbstverständlich, dass körperorientierte und achtsamkeitsbasierte Verfahren in Belastungssituationen helfen und sogar für künftige Herausforderungen eine unterstützende Grundlage bilden können. Daher möchte ich ein wenig über den neurobiologischen Unterbau berichten und zitiere aus einem Vortrag von Dr. Britta Hölzel – gehalten auf einer Jahrestagung der Milton-Erickson-Gesellschaft (März 2012 in Bad Kissingen).

Hölzel sagt: Es gibt die Vermutung, dass die Achtsamkeitsmeditation ganz grundlegend den Mechanismus der Selbstregulationsfähigkeit verbessert, also die Art und Weise, wie wir uns selbst und unsere Erregung regulieren. Was ist denn das überhaupt, Achtsamkeitsmeditation? Eine häufige Definition ist, dass es sich um das nicht urteilende Gewahrsein von Empfindungen im gegenwärtigen Moment handelt. Das heißt, die Aufmerksamkeit wird wirklich genau ins Hier und Jetzt gebracht und im Hier und Jetzt werden die Erlebnisse und Erfahrungen beobachtet. Dies geschehe mit einer Haltung der Akzeptanz und der Offenheit, also ohne die Erfahrung zu bewerten, sondern einfach beobachtend dem Erlebten gegenüberzutreten.
Um das einmal kurz auszuprobieren, können Sie sich gerade und aufrecht hinsetzen – so entspannt wie möglich. (Erst lesen, dann machen ?) Entweder können Sie dann die Augen schließen oder Sie können den Blick sanft zu Boden senken. Dann bringen Sie die Aufmerksamkeit in den Körper hinein. Sie spüren den Kontakt des Körpers mit der Sitzfläche, den Kontakt der Fußsohlen am Boden, die Haltung der Arme und der Hände. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, den Fluss der Atmung zu spüren: Ist er in diesem Moment schnell, flach, tief, langsam, mehr oder weniger regelmäßig? Welche Empfindungen oder Emotionen sind jetzt im Moment feststellbar? Einfach nur wahrnehmen! In welchem Bereich des Körpers ist diese Empfindung oder Emotion jetzt am deutlichsten spürbar? In Kontakt dazu bleiben, Gedanken kommen und gehen! Beenden der Übung durch nochmaliges Spüren des ganzen Körpers, wie ist das Sitzen, wie die Wahrnehmung der Außenwelt, vielleicht Recken und Strecken und tief atmen. Ist es nun genauso wie vorher oder irgendwie anders?
Weiter mit Hölzel:
Achtsamkeitsmeditation kann ein erhöhtes Körpergewahrsein befördern, die Emotionsregulation verbessern und zu einer Veränderung des Selbsterlebens führen.
Hölzel berichtet aus Untersuchungen des Gehirns mittels MRT, sie berichtet aus der Erfahrung und über Befragungen von positiven Effekten dieser Art von Meditation. Es sei möglich, die Struktur des Gehirns bei den jeweiligen Funktionen zu messen.
Die sogenannte graue Substanz befindet sich sowohl in den äußeren Bereichen, als auch in einigen tieferliegenden Kerngebieten des Gehirns. Ihr Gewebe wird gebildet von dem Körper der Nervenzellen und der Dendriten, also der Verzweigungen, der Verbindungen zwischen den Neuronen und von weiteren Gewebearten wie Zellenstützgewebe und Blutgefäßen.
Man habe gefunden, dass mehr oder dichtere graue Substanz häufig mit einer besseren Leistung der Gehirnregionen einhergeht. Im Bereich der Meditationsforschung fand man Unterschiede in der Hirnstruktur der grauen Substanz zwischen Menschen, die sehr erfahren sind in der Meditation und Menschen, die noch nie meditiert haben. Hirnregionen, auf die das in verschiedenen Untersuchungen zutraf, sind der Hippocampus, wichtig für das Lernen und Gedächtnisprozesse und die Insula, wichtig für Körpergewahrsein und Interaktionsfähigkeit. Wenn wir in unseren Körper hinein spüren, wir zum Beispiel Bewegung im Bauchraum wahrnehmen, dann unterstützt die Insula diese Funktion.
Man kann nicht sagen, die Unterschiede seien tatsächlich durch die Meditation zustande gekommen, es wäre genauso gut möglich, dass die Meditierenden, schon bevor sie begannen zu meditieren, entsprechende Strukturen des Gehirns aufwiesen. Man weiß aber aus anderen Bereichen der Forschung, dass Neuroplastizität, also Veränderung der Hirnstruktur durch Übung, möglich ist. Zum Beispiel wurden Probanden darin unterrichtet zu jonglieren, und zwar solche ohne Erfahrung im Jonglieren. Nach drei Monaten hatte die graue Substanz zugenommen, und zwar in Regionen, die wesentlich für die räumlich-visuelle Koordination sind.
Hölzel und andere haben untersucht, dass durch das Durchlaufen eines achtwöchigen Programms – MBSR nach Jon Kabat-Zinn – in welchem mit verschiedenen Techniken Achtsamkeit geübt wurde, bei Personen ohne Meditationserfahrung die graue Substanz über die 8 Wochen im linken Hippocampus zugenommen hat.  Vom Hippocampus weiß man, dass er sehr anfällig ist für die neurotoxischen Effekt von Stress. Wenn Stresslevel steigen, steigen auch die Cortisol-Level im Körper und Cortisol ist toxisch für Gewebe.  Im Hippocampus kann das dazu führen, dass sogar Neuronen absterben. Mit zu hohem Stress einhergehend hat man bei verschiedenen Erkrankungen dort weniger graue Substanz vorgefunden, zum Beispiel bei Depressionen oder bei posttraumatischer Belastungsstörung. Vom Hippocampus weiß man auf der anderen Seite, dass er die Fähigkeit neue Synapsen zu bilden besitzt und dass dort sogar neue Neuronen entstehen können. Wenn die Stresslevel also sinken, ist es möglich, dass sich Gewebe wiederherstellen kann.
Im Zusammenhang mit der Achtsamkeitsmeditation wurden noch weitere Regionen im Gehirn gefunden, wo eine Zunahme an grauer Substanz stattfand. Es waren dies Regionen, die wichtig sind für Empathiefähigkeit oder solche, die wesentlich an Aufmerksamkeitsprozessen beteiligt sind.

Letztendlich wissen wir auch jetzt noch nicht, ob wirklich die Meditation die primäre Ursache für diese Veränderungen war, und schließlich stellt sich die Frage, was bedeuten die Veränderungen eigentlich? Wir wissen auf der einen Seite, das Achtsamkeitsmeditation sehr positive Effekte für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden hat, auf der anderen Seite sehen wir strukturelle Veränderungen im Gehirn. Das Stresserleben der Teilnehmer des MBSR-Kurses sank.
Hölzel: Wir haben Stressempfinden bei 26 gesunden Personen gemessen, die relativ stark gestresst waren. Nach dem Kurs haben wir gesehen, dass die Werte signifikant abgenommen haben. Was korrespondierte im Gehirn? Welche strukturellen Veränderungen traten im Gehirn auf? Wir haben gefunden, dass tatsächlich die Abnahme im Stresserleben korreliert war mit der Abnahme der grauen Substanz in der Amygdala. Wir haben gesehen, dass je stärker Stresserleben reduziert wurde desto stärker sich auch die graue Substanz in der Amygdala reduzierte. (Diese ist unter anderem beteiligt am Wiedererleben von Gefahr, Schmerz oder Leid und kann bei als ähnlich erachteten Situationen starke somatische Reaktionen, etwa Panik, Übelkeit, Apathie, Ohnmacht auslösen. Sie spielt also eine Rolle bei sogenannten Flashbacks bei posttraumatischer Belastungsproblematik.)

Mehr als dass hirnorganische Veränderungen geschehen, wenn achtsamkeitsbasierte, körperorientierte Verfahren geübt werden, möchte ich aus alledem nicht ableiten. Immerhin: Die Hinweise darauf, dass die gefühlte Veränderung, so sie denn stattfindet, wahrscheinlich keine „Einbildung“ ist, die nehme ich hiervon mit.
Jede*r wird selbst herausfinden, ob solche Übungen ihr / ihm guttun oder nicht. Jeder Mensch ist einzigartig und alles taugt nicht für jede*n. Es einmal auszuprobieren, kann nicht schaden, wenn man keine Wunder erwartet.

Eine gute Woche!