Reflexintegration 2

Ich komme auf mein Thema der letzten Woche zurück, die überdauernden frühkindlichen Reflexe und ihre möglichen Folgen. Diese beschäftigen mich schon sehr. Zunächst einige Vorüberlegungen:

Wir sind daran gewöhnt, zuzugestehen, dass es die sogenannten psychosomatischen Beschwerden gibt. Ein nicht auf äußere Einflüsse und nicht auf körperliche Verursachung zurückzuführendes Herzrasen oder Magenbeschwerden, obgleich wir nichts Unverträgliches gegessen haben und wofür der Arzt nach aller medizinischen Kunst nichts Physisches herausfinden kann, sind wir geneigt, als psychosomatisch verursacht zu bezeichnen.

Weniger im Blick haben wir, obwohl diese Erfahrung doch zu unserem Alltag gehört, sind die somato-psychischen Beschwerden. Ein Kind, das sich sehr doll die Knie aufschlägt, wir wohl meist erstmal herzzerreißend (!) weinen. Eine langdauernde Erkrankung schlägt uns aufs Gemüt. Natürlich reagieren Menschen verschieden auf die Einschränkungen, die sie durch Krankheit oder Unfallfolgen zu verarbeiten haben, jedoch wird diese körperliche Erfahrung sie in irgendeiner Weise verändern, sie sind psychisch in einem anderen Zustand als zuvor.

Bei diesen Überlegungen komme ich wieder an den Punkt, dass mir die Trennung von Körper und Psyche als unsinnig erscheint. Wozu ist das gut? Wenn ein Mensch leidet, werden wir gut daran tun, nach allen Möglichkeiten Ausschau zu halten, durch die er Hilfe finden kann. Das Kind ist gestürzt, die Wunde wird beschaut, gereinigt, verbunden, das Kind wird getröstet, nichts davon sollte fehlen.

Ein Mensch, der an Parkinson erkrankt ist, benötigt Medikamente, Übungen und Solidarität. Nichts davon sollte fehlen. Soweit zu den helfenden Maßnahmen.

Wie steht es mit der Diagnostik? Ist es wirklich in jedem Fall – oder überhaupt in auch nur in einem einzigen Fall – möglich, den Zustand eines leidenden Menschen auf nur einen Ursachenkomplex zurückzuführen? Körperlich oder psychisch? Wir wissen, dass die Immunabwehr eines traurigen oder stressgeplagten Menschen weniger gut funktioniert als die eines ausgeglichenen, mit seinem Leben zufriedenen Menschen. Körper und Psyche sind beim Schnupfen beide am Start.

Es soll Einflüsse der Psyche auf die Wundheilung geben: Liebevolle Pflege unterstütze den Körper bei seiner Arbeit, Einsamkeit behindere, sagen einige. Mir leuchtet das ein.
Ein Mensch mit Zielen und Vertrauen ins Leben und in sich wird eine Operation besser überstehen als ein Mensch mit Defiziten in diesen Bereichen. Erlebt ein Mensch, dass er die Operation gut überstanden hat und wieder zuversichtlich hinaus ins Leben gehen kann, wird dies Auswirkungen auf sein Selbstbild ebenso wie auf seine Leistungsfähigkeit haben. Körper und Psyche sind eins.

Wenn ich nun auf die frühkindlichen Reflexe schaue, dann entnehme ich der Literatur, dass diese, wenn sie nicht in der Entwicklung des Kindes integriert und abgelöst wurden, Folgen haben können, die über die reine Körperlichkeit hinausgehen. Wir sind ein System. Jeder Einfluss wirkt an mehreren Stellen und beeinflusst die Organisation des gesamten Systems.
Auch die Verursachung dieser mangelnden Reflexintegration kann verschieden sein, bzw. mehr als einen Ursprung haben. Hier spreche ich von der Befindlichkeit und dem Erleben der Mutter während der Schwangerschaft und dem Erleben des Babys im ersten Lebensjahr.

Wir sind bereits auf der Ebene des Fötus mit Urreflexen ausgestattet, schon bevor das zentrale Nervensystem ausgebildet wurde. Im Leib der Mutter ist ganz schön was los! Diese frühen Reflexe sichern das Überleben und sie leiten jeweils in den nächsten Schritt der Menschwerdung über. Sie sind bei der Geburt dabei, beim ersten Schrei, beim Drehen in den Vierfüßlerstand und beim Hochkommen in den Zweibeinstand. Sie helfen, dass der Kopf gehalten und gedreht werden kann, dass die Augen der Bewegung folgen, und und und… Zu Beginn fällt das Kind noch um, wenn es den Kopf zum Geräusch dreht, dann kann es irgendwann das Gleichgewicht stabil halten, sogar beim Rückwärtslaufen. Es sei denn… Es sei denn Reflexe haben Bestand, sind aktiv, obgleich höhere Hirnfunktionen schon übernommen haben sollten. Dann kann es schwierig werden im Reifungsprozess.

Die Reflexintegration spielt also logischerweise für die weitere Entwicklung des Kindes eine bedeutende Rolle, Probleme beim Lernen und auch im Verhalten können den schulischen Werdegang empfindlich stören. Ich empfehle hierzu die Autorin Sally Goddard Blythe zu lesen, wenn Dein / Ihr Interesse geweckt sein sollte. Mir sagt diese Autorin zu, denn sie belegt ihre Aussagen mit zahlreichen Literaturverweisen. (Natürlich gibt es auch andere Autor*innen. In der Praxis werde ich mich an Sieber & Paasch halten, die Methode RIT®).

Die Diagnostik und das Training für Kinder liegt inzwischen nicht mehr in meinem Aufgabenbereich, ich bedaure, als Lehrkraft an Förderschulen diese Kenntnisse noch nicht erworben gehabt zu haben! Die Frage an Physiotherapeuten und Ergotherapeuten, ob sie auch Reflexintegration im Portfolio haben, möchte ich ausdrücklich empfehlen zu stellen, wenn Dein / Ihr Kind Schwierigkeiten hat!

Für mich in meiner Praxis für Erwachsene und in meinem Leben ist es sehr erhellend zu verstehen, dass manche Schwierigkeiten auch im späteren Leben noch diesen Hintergrund haben können. Schwierigkeiten, die in den Reaktionen der Körperhaltung und des Gleichgewichts auftauchen und auf nicht gereifte Reflexe zurückzuführen sind, prägen Menschen auch in ihrer Persönlichkeit.
Beispiel: J. hatte immer schon Gleichgewichtsprobleme. Sie hatte so sehr versucht, Schlittschuh- und Rollschuhlaufen zu lernen – es war nicht von Erfolg gekrönt. Sie war die Einzige, die nicht mithalten konnte! Es war auch mit dem Radfahren nicht eben einfach – es brauchte sehr verständnisvolle Freundinnen, es überhaupt zu lernen, und in Stresssituationen im Verkehr war es immer eine Herausforderung für sie, nicht abzusteigen und zu Fuß nach Hause zu gehen. Irgendwann hat sie es aufgegeben und erlebte sich dabei als unzulänglich. Inzwischen hat sie einen inneren Abstand dazu gefunden, staunt nur einfach, dass manch 70-Jährige im Ort elegant und sicher an ihr vorbeizieht. Wie machen das die anderen? Sie hat den Dreh nicht gefunden. Lange Zeit ihres Lebens war sie mit Schamgefühlen unterwegs und hat sich bemüht, ihr Handicap zu verbergen. Das war für sie eine permanente Verunsicherung! Es kostete Kraft und zog Aufmerksamkeit.

Es können Bewegungsabläufe ebenso wie Selbstwertempfindung beeinträchtigt sein, mit den entsprechenden möglichen Folgen von Unfallneigung, Deprimiertheit und unter Umständen sogar sozialem Rückzug. In der Kindheit bei sportlichen Ereignissen immer zurückzubleiben kann das Selbstbild nachhaltig trüben!

Goddard Blythe schreibt, dass im Falle mangelnder Reflexintegration höhere Hirnzentren herangezogen werden müssen, um Gleichgewicht, Wahrnehmung und Körperkoordination herzustellen, da die normalerweise zuständigen, unbewusst arbeitenden Hirnzentren nicht dazu in der Lage sind, wenn die Reflexe nicht gereift sind. Die kortikalen Zentren werden mit Aufgaben überladen, die nicht ihre eigentlichen sind. Damit sie dennoch ihre Aufgaben der bewussten Informationsverarbeitung und willentlichen Steuerung erledigen können, muss der Mensch kompensatorische Energie aufwenden. Hier  k a n n  ein Ursprung für den Eindruck mancher Menschen sein, sie müssten sich bei allem immer sehr anstrengen. Goddard Blythe sieht hier auch eine mögliche Verursachung für ein zu hohes Erregungsniveau und dem Erleben, dass die Erregung mit der entsprechenden Zuschreibung überwältigend sei – Angst zum Beispiel.

Und ich? Quickstepp zu tanzen werde ich nicht mehr lernen, schätze ich. Die Übungen zur Integration der Reflexe, bei denen ich offenbar etwas nachzuarbeiten habe, mache ich dennoch und bin sehr neugierig, wie es damit weiter geht! Ich werde berichten!

Nächste Woche schreibe ich darüber, bei welchen Erscheinungen es Hinweise gibt, dass es mit der Reflexintegration Probleme gab und diese bis ins Heute hinein wirken. Dann kann als nächstes eine entsprechend ausgebildete Fachkraft aufgesucht werden, dies zu testen. Dann geht es gegebenenfalls an die Bewegungen, die nach regelmäßigem Üben das Leben erleichtern.

Eine schöne Woche!