Emotionen. Stress. Krankheit.

Dies ist keine Buchbesprechung. Aber ich beziehe mich auf ein Buch: Doktor Gabor Maté berichtet in seinem Buch „Wenn der Körper Nein sagt“ über Patientinnen und Patienten, die er als Allgemein- und als Palliativmediziner kennengelernt hat. Dieses Buch werde ich hier nicht besprechen, sondern erlaube mir, diejenigen Gedanken zu zitieren oder zu paraphrasieren, die mir zurzeit wichtig sind. Einige dieser Gedankengänge sind auch aus anderen Publikationen bekannt. So kompakt und nachvollziehbar habe ich über diese Thematik bisher nicht gelesen: Den Zusammenhang von Bedürfnissen, Emotionen, Stress und Krankheit. Die verständliche Art zu schreiben, die spürbare Fähigkeit, mit den Menschen, über die er schreibt, mitzufühlen, dabei aber niemals in die Gefahr zu geraten, einen „Ratgeber“ zu schreiben – dies alles nimmt mich für das Buch sehr ein. Ich beginne in dieser Woche mit den mir wichtigen Aussagen zu den Themen Emotionen und Stress.

Stress

Prüfungsdruck ist Stress für viele Menschen. Er ist spürbar. Und er geht meist vorbei. Aber viele Menschen verbringen unwissentlich ihr Leben, als würden sie von einem wertenden Prüfer beobachtet. Als gäbe es jemanden, den sie um jeden Preis zufriedenstellen müssen. Unser Bedürfnis, gesehen, erkannt und respektiert zu werden, als diejenigen, die wir sind, wird dadurch negiert. Wir tragen dann möglicherweise eine Wut in uns, die wir nicht wahrhaben wollen. Unser Organismus allerdings reagiert mit Stress.
Menschen, die in Isolation leben, selbstgewählt oder von außen herbeigeführt, können ihr Bedürfnis nach Bindung nicht erfüllen. Eine Angst begleitet sie, sie erleben bewusst oder unbewusst eine Bedrohung. Der Organismus reagiert in jedem Fall mit Stress.
Nicht alle erleben diesen Stress bewusst, nicht alle wissen, dass sie nicht zufrieden sind, sondern halten ihr Leben für ziemlich zufriedenstellend. Sie verstehen dann nicht, warum sie unter Symptomen unterschiedlichster Art leiden und verübeln sich dies sogar. Eine Klientin von mir sagt häufig: Aber ist das nicht bei allen so? Meine Antwort: Nein. Ist es nicht.

Für gewöhnlich wissen wir, dass wir, wie alle Säugetiere, mit einem angeborenen Kampf- oder Fluchtverhalten ausgestattet sind. Bei einigen Menschen ist dies verschüttet oder nicht ausreichend entwickelt. Das Grundproblem im späteren Leben ist dann nicht der Stress von außen, sondern eine umweltbedingte Hilflosigkeit, die keine der gesunden Reaktionen von Kampf oder Flucht zulässt. Ein anderer Begriff dafür ist erlernte Hilflosigkeit. Dieses Lernen findet aber in einer Zeit statt, in der Kinder auf ihre erziehenden Personen angewiesen sind. Stress, der aus diesem unterentwickelten Kampf- und Fluchtreaktionsmodus resultiert, wird häufig nicht wahrgenommen, nicht als belastend empfunden. Diese Menschen neigen dann dazu, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, in nicht funktionierenden Beziehungen zu verharren, das unbefriedigende Jobverhältnis beizubehalten, sich nicht so frei wie möglich zu entfalten.

Die Biologie des Stresses wird im Hormonsystem gemessen und es finden sich sichtbare Veränderungen der Nebennieren, der Milz, der Thymusdrüse, den Lymphdrüsen, der Darmschleimhaut, die sich schwer entzünden kann. Dies geschieht über die Pfade des Zentralnervensystems und der Hormone. Nimmt der Hypothalamus im Hirnstamm eine Bedrohung wahr, bildet er ein Hormon, das im Endeffekt in den Nebennieren zu einer Stimulierung des Cortisols führt. Die unmittelbare Wirkung von Cortisol ist eine Abmilderung der Stressreaktion. Allerdings wird dabei die Immunaktivität reduziert, um sie in sicheren Grenzen zu halten. Die funktionelle Verbindung wäre also die Aufrechterhaltung der Homöostase im Organismus. Eine permanente höhere Ausschüttung von Cortisol hingegen schädigt das Immunsystem dauerhaft und kann zu Erkrankungen führen, auch zu den diversen Autoimmunerkrankungen.

Emotionen

Emotionen lassen sich unterteilen in
1. die subjektive Erfahrung. Wie fühlen wir uns? Wir wissen dann, dass wir gerade Wut, Freude oder Angst spüren und kennen die dazugehörigen körperlichen Symptome.

2. spielt die Außenwirkung unserer Emotionen eine wichtige Rolle. Ob es uns bewusst oder unbewusst ist: Die Art, wie von anderen wahrgenommen wird, dass wir gerade wütend sind, ängstlich, froh, wirkt auf uns zurück. Unsere nonverbalen Signale können wir in der Regel nicht unterdrücken. Hier überträgt sich über Stimmlage, Gesten, Gesichtsausdrücke, das Timing von Handlungen oder sogar unserer Sprechweise unsere Verfassung. Unser Gegenüber nimmt es wahr und reagiert seinerseits. Und es ist nicht selten, dass eine Person die von ihr kommunizierten Emotionen nicht wahrnimmt, während die Menschen um diese Person herum alles sehr deutlich lesen können.

Es kann sein, dass ein Kind sehr wütend oder sehr ängstlich ist. Und es kann sein, dass Eltern ihrerseits darauf mit Wut oder Angst reagieren. In diesem Falle könnten sie dazu neigen, die Emotionen des Kindes zu unterdrücken, zu bestrafen, zu ignorieren. So dass das Kind lernt, vergleichbare Emotionen in der Zukunft zu verdrängen. Das Kind braucht Bindung und Bestätigung. Das geschilderte elterliche Verhalten wird als Ablehnung verarbeitet und das Kind reagiert seinerseits mit Scham. Eine gefühlte Hilflosigkeit kann das Ergebnis sein. Tatsächliche oder in sich selbst wahrgenommene Hilflosigkeit ist ein wirkungsvoller Auslöser biologischer Stressreaktion. Das Bedürfnis nach Autonomie wird verletzt, das wichtige Bedürfnis zu Selbstausdruck und Eroberung der Welt. Erlernte Hilflosigkeit ist ein psychischer Zustand, in dem die betroffenen Menschen sich stressigen Situationen nicht entziehen, obwohl sie körperlich die Möglichkeit dazu haben. Menschen bleiben sogar gewalttätigen Beziehungen, in denen sich gefangen fühlen, oder sie führen einen Lebenswandel, den sie sich nicht wirklich wünschen. Sie fühlen sich unfrei und sie bleiben.

3. Emotionale Stimuli lösen physiologische Veränderungen aus, etwa Entladungen im Nervensystem, Hormonausschüttungen, Veränderungen des Immunsystems. Diese Reaktionen können in der Regel nicht selbst kontrolliert werden. Und obwohl sie nicht immer von außen unmittelbar beobachtet werden – sie finden statt. Dies ist besonders bei chronifizierten, emotional problematischen Situationen bedrohlich für die psychische Gesundheit.

Gabor Maté schildert, was zur emotionalen Kompetenz erforderlich ist:

1. Die Fähigkeit, unsere Emotionen zu spüren. Ein Bewusstsein darüber, dass wir Stress erfahren.

2. Die Fähigkeit, unsere Emotionen ausdrücken zu können. Unsere Bedürfnisse abzuschätzen und die Unversehrtheit unserer emotionalen Grenzen aufrechtzuerhalten.

3. Die Fähigkeit psychische Reaktionen, die der aktuellen Situation angemessen sind von denen zu unterscheiden, die dem Schatten der Vergangenheit entsprungen sind. Was wir heute von der Welt wünschen oder verlangen, sollte unseren gegenwärtigen Bedürfnissen entsprechen, nicht den unbewussten unbefriedigten unserer Kindheit – wenn wir gesund bleiben oder werden wollen.

4. Bewusstsein darüber und Akzeptanz dafür, dass unsere authentischen Bedürfnisse befriedigt werden müssen. Und dass deren Unterdrückung, um die Akzeptanz und das Wohlwollen anderer zu erlangen, uns krank machen kann. Eine chronische Störung unserer emotionalen Befindlichkeit und Ausdrucksfähigkeit hat sehr wahrscheinlich eine schwache gesundheitliche Konstitution zur Folge!

Weiter geht es nächste Woche – eine gute Zeit bis dahin!