Warum es gut sein kann, sich zu trennen

… und wieso es keine Rolle spielt, dass Blut dicker ist als Wasser

G sagt: Wenn ich zu meiner Familie fahre, wird es mir schon an der Gartenpforte eng um die Brust.

L sagt: Ich will gelegentlich nach Hause fahren, wenn es mir schlecht geht – in der Hoffnung, dass ich da ein bisschen Trost uns Ruhe finde. Dabei hat es noch nie funktioniert!

S sagt: Über meiner Familie hängt eine dunkle Regenwolke. Ich will da nicht mehr drunter stehen.

B sagt: Meine Mutter hat mich so enttäuscht, wieder und wieder. Ich will das nicht mehr erleben.

R sagt: Wenn es mir schlecht geht, hat es immer mit meiner Familie zu tun. Meine Mutter macht mich krank!

D sagt: In meiner Familie sind alle immer damit beschäftigt, gekränkt zu sein. Das ist mir zu anstrengend.

E: Sagt, Akzeptanz wenigstens, das suche ich und es ist seit langem vergebens!

Manche erzählen, dass ihre Eltern immer genau wissen, was richtig wäre, dass ihre Meinung nicht zähle.

Manche erzählen, dass sie nicht Trost, sondern Belehrung ernten, wenn sie ihre Sorgen offenbaren.

Manche fühlen sich kontrolliert. Manche fühlen sich niedergemacht und entwertet.

Manchmal gab es schlimme Übergriffe, verbunden mit der Weigerung, darüber zu sprechen.

Manchmal werden Fragen einfach nicht beantwortet und Grenzziehungen missachtet.

Manchmal ist es in den Augen der Eltern nie genug, was ihr Sohn, ihre Tochter geben und teilen möchte.

Manchmal ist es auf einmal zu viel. Sich zu entwickeln, zu verändern, hin zu einem besseren Selbstgefühl, zu mehr Handlungsfreiheit, einem zufriedeneren Leben scheint unmöglich, solange der Kontakt zu den Eltern, zu Vater oder Mutter weiter besteht. Manchmal umgreift dieses Erleben beinahe die gesamte Herkunftsfamilie, die dann verlassen wird.

Es ist bestimmt richtig zu fragen: Ist das wirklich immer so? Gibt es Ausnahmen? Was ist dann konkret anders? Diese Fragen gehören allerdings nicht automatisch an den Beginn eines Prozesses. Und es gibt sogar Konstellationen, da verändern die Antworten auf diese Fragen die innere Haltung nicht wesentlich. Es bleibt beim Kontaktabbruch.

Wir alle kennen doch Menschen, die sich schwer damit tun, Bedürfnisse und Wünsche anderer zu akzeptieren. Der Chef, der einfach nicht einsehen will, dass er den Mitarbeitenden zu viel aufbürdet.
Die Freundin, die immer erst um fast Mitternacht anruft und Aufmerksamkeit möchte. Der Nachbar, der seinen Musikgeschmack mit der gesamten Siedlung teilen möchte. Wenn sich dort jemand zur Wehr setzt und bei Folgenlosigkeit den Kontakt abbricht, dann werden sich in der Regel verständnisvolle Mitmenschen finden, wird Zuspruch geerntet werden können. Aber bei den Eltern? Schwierig!

Schauen wir hin: Jugendliche leben lieber auf der Straße als weiter im Elternhaus. Welche Not steckt dahinter? Mütter oder Väter verhindern den Kontakt ihrer Mutter, ihres Vaters zu den eigenen Kindern. Wovor wollen sie sie schützen? Menschen um die Vierzig verweigern jede weitere gemeinsame Zeit mit den Eltern – wieviel vergebliche Versuche hat es wohl bis dahin gegeben um zu erreichen, endlich gesehen zu werden als eigenständige Person? Jemand schafft es nicht, sich zu lösen und bettelt ein Leben lang um die Liebe der Mutter – wie könnte da die Unterstützung aussehen?

Das Aufkündigen der Loyalität zur Herkunftsfamilie kann für das Individuum die Rettung sein. Anstrengend allemal. Und wenn jemand diesen Weg geht, wissen wir nicht, ob es endgültig sein wird. Was dieser Mensch nicht braucht, sind althergebrachte Sprüche wie „Es sind doch deine Eltern“, Belehrungen darüber, was „man“ doch nicht machen könne, was man wem nicht antun dürfe und ähnliches.

Was dieser Mensch brauchen könnte, wäre Unterstützung bei der Idee, dass es erlaubt sei, für sich selbst zu sorgen. Ohne Wenn und Aber! Die Definition als „endgültig“ muss es dabei nicht geben, aber das vorweggenommene Konstrukt einer „Pause“ ebenso wenig. Ein Ende wird sich zeigen, wenn es so weit ist, oder eben nicht.

Es ist in manchen Fällen Familientradition, von Generation zu Generation die schweren Pakete von Ungesagtem, von Leid, von Verfehlungen immer weiter zu geben. Ein Kind kommt auf die Welt und spürt die Last, ohne begreifen zu können, was in seinem Umfeld vor sich geht. Es geht hinaus ins eigene Leben und fühlt sich innerlich gebeugt. Es kann eine Chance sein, wenn ein Familienmitglied die Klärung einfordert dessen, was nie auf den Tisch kam. Wenn die Klärung verweigert wird, ist es für die seelische Gesundheit oft nötig, fortan seiner Wege zu gehen und den Blick zurück nurmehr in einem anderen Rahmen zu unternehmen – in einer guten Freundschaft, in einer von Verständnis getragenen Partnerschaft oder in einer Therapie.

In einer Therapie ist es häufiges Thema: Darf ich das / durfte ich das? Ich sehe doch, dass er / sie halt einfach nicht anders kann, muss ich nicht verzeihen? Frage: Hat jemals ein Verzeihen auf dem Boden von „Das musst Du doch“ wachsen können? So ist der Kontaktabbruch zur Herkunftsfamilie auch ein Bruch mit dem Willen zur bedingungslosen Normerfüllung, und wenn es gut läuft, geht es hin zu mehr Freiheitsgraden.

In einem therapeutischen Rahmen zu erleben, dass es keine Ver- und Gebote gibt, wenn es um Haltungen, Werte und Normen geht, kann sehr heilsam sein!

Dass wir uns unsere Eltern nicht ausgesucht haben, ist eine Binsenweisheit. Daraus zu folgern „ich muss erstmal garnichts“, ist in der Regel nicht einfach – aber machbar.

Dass manchmal der Abbruch zu einem Aufwachen in der Elterngeneration führen kann, zu einem Erkennen, dass das Leben auch anders geführt werden kann, zu einem Wollen, eben dieses zu lernen, das kann zu einem neuen gemeinsamen Prozess führen. Es hält jedoch im Alten gefangen, dies zu erwarten – leider findet es nicht so häufig statt und es ist gewisslich nicht herstellbar durch die Person, die verlässt. Denn auch die alten Eltern entscheiden, wie sie denken und handeln wollen.

Lebensprojekte: Wie will ich leben? Was will ich zulassen, wo will ich Grenzen setzen? Welche Kompromisse mag ich eingehen und welche nicht?

Eine gute Woche!