Was ich lese (2) Fritz B. Simon

Fritz B. Simon: Meine Psychose, mein Fahrrad und ich – Zur Selbstorganisation der Verrücktheit. Bei Carl Auer erschienen, in der Reihe systemische Therapie. 1990. Ich beziehe mich auf die 14. Auflage von 2017.

Wer gerne mit dem systemischen Denken etwas vertrauter werden möchte oder einfach Spaß hat an spitzfindigen Denkübungen, ist hier richtig.

Es gibt einige Übungen zur Selbsterfahrung, durch die das Verstehen vertieft werden kann, wie wir alle manchmal mehr oder weniger verrückt denken. Das Buch ist anschaulich und spannend geschrieben, anregend und humorvoll.

Als Lesebeispiel gebe ich aus dem Kapitel 9, Verrücktes Fühlen, eine Übung und einige Gedanken dazu wieder, teilweise übernehme ich dabei Formulierungen des Autors aus den Seiten 172-177.

Das Kapitel beginnt mit einem Würfelspiel und wandelt die Frage Soll ich, soll ich nicht? Für oder wider? um in ein Für und/oder wider. Dieser Weg könnte in die Verwirrung, möglicherweise aber auch in eine deutlich klarere Entscheidung führen, als es die üblichen Plus-Minus-Listen leisten können. Es beginnt allerdings zunächst genauso.

Zweifel, ob es bleiben soll, wie es ist oder sich etwas ändern soll, und wie es sich im Verhalten dann auch abbilden sollte, damit dies geschehen kann, können schon bei einfachen Entscheidungen auftauchen. Will ich wirklich gesünder leben, möchte ich heute Brötchen oder Müsli frühstücken? Oder schwerwiegender: Möchte ich meine Partnerin, meinen Partner verlassen oder möchte ich bleiben? Möchte ich die Arbeitsstelle wechseln? Sie kennen bestimmt diese oder ähnliche Fragen! Möchte ich diesen Beitrag weiterlesen? Oder eher doch nicht?

Was es auch immer sei, suchen Sie sich ihr momentanes Thema und schreiben Sie zwei Spalten auf, Für – Wider. Darunter jeweils die Zahlen 1-6. Finden Sie für jede dieser Kolonnen 6 gute Gründe und schreiben Sie sich ein Stichwort dazu auf, das diesen Grund für Sie symbolisiert. So weit, so bekannt.

Heute Müsli zum Frühstück?

Für                       Wider

1. gesund            1. aufwändig

2. sättigend        2. Marmelade schmeckt mir!

3. …                      usw.

Nun kommt etwas, das Sie vielleicht noch nicht kennen: Nehmen Sie sich 2 verschiedenfarbige Würfel. Vielleicht haben Sie einen weißen und einen schwarzen im Haus oder welche Farbe auch immer? Sie sollten sich aber unterscheiden, und wenn es in der Größe ist, und es sollten 6-er Würfel sein. (Kreative Varianten können Sie ja später noch probieren!)

Ich nehme jetzt weiß und schwarz und gebe Ihnen folgende Anweisungen: Mit dem weißen Würfel entscheiden Sie, welches der FÜR Argumente, und mit dem schwarzen, welches der WIDER Argumente Sie sich in jetzt den Sinn kommen lassen. Das heißt, Sie richten nach der Würfelentscheidung jeweils aktuell ihre Aufmerksamkeit auf genau diese Stichpunkte. Achten Sie bitte darauf, wie Sie sich fühlen, wenn Sie die gewürfelten Argumente bedenken!
Wieviel Zeit Sie sich zwischen den einzelnen Würfelaktionen lassen wollen, steht Ihnen frei. Sie sollten aber zu registrieren versuchen, ob sich bei den verschiedenen Spielvarianten unterschiedliche zeitliche Muster ergeben.

Spielvariante 1: Sie würfeln mit beiden Würfeln gleichzeitig und versuchen dementsprechend, beide Argumente gleichzeitig zur Grundlage Ihrer Entscheidung zu machen. Machen sie dies 12 mal hintereinander. Wenn es sich nur um Tee oder Kaffee, Müsli oder lieber nicht, also z.B. Brötchen handelt, versuchen Sie, sich Ihrer Entscheidung entsprechend zu verhalten. Na, das kann spannend werden! Wenn es sich um eine größere Entscheidung handelt, zum Beispiel um den Wechsel der Arbeitsstelle, dann versuchen Sie, sich Ihr passendes Verhalten ganz genau vorzustellen!

Spielvariante 2: Sie würfeln zunächst 12 mal mit dem weißen, dann 12 mal mit dem schwarzen. Verfahren Sie mit Ihrer Gefühlswahrnehmung und Ihrem Verhalten wie in Spielvariante 1.

Spielvariante 3: Würfeln Sie insgesamt wiederum 24 mal, jetzt aber immer abwechselnd mal mit dem weißen, mal mit dem schwarzen. Verfahren Sie damit wie ein Spielvariante 1.

Spielvariante 4: Sie entscheiden sich, das Würfeln zu lassen.

Denken Sie sich selbst weitere Spielvarianten aus!

Sind sie nun verwirrt? Sehen Sie klarer? Tendieren Sie zu sowohl-als-auch oder zu weder-noch? Beim Müsli und in der Beantwortung dieser Frage?

Haben Sie etwas völlig anderes entdeckt? Die Gleichzeitigkeit widerstreitender Tendenzen ist Ihnen bewusster geworden? Ambivalenz kennen wir alle. Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust! (Faust). Und dies ist unter Umständen ziemlich dramatisch, wenn beide Seelen scheinbar gleich stark sind. Oder gibt es in der Wohngemeinschaft Ihrer Gedankenwelt einen Hauptmieter? Der sich da immer durchsetzt?

Es könnte sein, dass Sie sich jetzt innere Bilder entwerfen, zum Beispiel von zwei Pferden, die vor einen Wagen gespannt sind und jedes Pferd möchte woanders hin. Ambivalenz ist etwas Alltägliches. Manche quälen sich damit sehr herum, Soll ich, soll ich nicht meinen Freund verlassen? Soll ich, soll ich nicht jetzt sofort einen Urlaub buchen, egal was passiert? Wie unterscheidet sich so eine Ambivalenz von einem komplett verrückten Zustand? Manche nennen diesen Psychose.

In der „normalen“ Ambivalenz haben wir es mindestens mit 3 Hauptdarstellern zu tun: Den beiden Bewohnern in der Brust und mit derjenigen/demjenigen, die/der behauptet, sie/er sei die Brust. Wer beobachtet diese beiden widersprüchlichen Charaktere, mit kritischem Blick und Abstand aus einer Außenperspektive? Wer ist weder die eine noch die andere, wer identifiziert sich nicht mit diesem Gefühl und diesem Gedankengebäude? Wer folgt dann auch nicht spontan den gegensätzlichen, mit seinen Gefühlen verbundenen Handlungsimpulsen?

Jemand beißt abwechselnd ins Brötchen und nimmt einen Löffel Müsli. Hin und hergerissen lässt er den Konflikt zu. Und schließlich, irgendwann, wird er doch Partei für das eine oder das andere ergreifen. Spätestens dann, wenn äußere Ereignisse es nicht länger zulassen, einer Entscheidung auszuweichen. (Auf eine Nussschale gebissen, Mist, Zahn abgebrochen… Essen einstellen?)

Vielleicht entsteht durch diese Ambivalenz auch kreativ etwas Neues. Etwas, das die Widersprüche versöhnen könnte. Vielleicht entsteht etwas vollkommen anderes, das diese Widersprüche vollkommen unwichtig erscheinen lässt. (Wollen Sie wirklich Ihr Müsli mit Marmelade essen?)

Wer sich darin üben möchte, diese_n Beobachter_in  zu bitten, solche Würfelübung gedanklich durchzuführen, könnte feststellen. Dass er/sie weniger als früher Ich weiß auch nicht… denkt. Und dabei zunächst eine gewisse Gefühlsverwirrung erlebt. Vielleicht tatsächlich kreativer wird, sich kompetenter erlebt.  

Geschieht dies nicht, kann es sein, dass jemand mit dem Löffel vor dem Mund das Müsli stehen lässt. Hungrig bleibt.
Wer sich entscheidet, andauernd zu wechseln, könnte von sich den Eindruck haben, sie oder er sei gar nicht ambivalent. Im jeweiligen Moment ist sie/ist er ja doch widerspruchsfrei! Wer so handelt, geht womöglich davon aus, sie/er sei entschlossen. Und bemerkt gar nicht, dass sie/er springt. Das macht es gelegentlich schwierig für diejenigen, die davon betroffen sind. Sich selbst eingeschlossen.
Wer hingegen zwei Gefühle und Gedankengebäude gleichzeitig leben möchte, wird in eine ziemliche Schwingung geraten. Zorn und Zärtlichkeit, Zufriedenheit und Bedauern.
Wer im weder-noch gefangen ist, erscheint der Beobachterin wie in einem Totstellreflex erstarrt. Keine Bereitschaft ist zu erkennen, etwas zu tun, kein Wunsch. Bleib mal liegen! Schlaf noch ein bisschen! Wie es da drinnen aussieht, geht niemanden etwas an! So jemand erscheint irgendwie jenseits von Gut und Böse. Anders ausgedrückt weder Fisch noch Fleisch.

Ich wünsche uns allen, dass wir solche Zustände nur gelegentlich erleben. Dass wir nicht dabei verharren. Dass die dritte Instanz, die Beobachterin, uns rauszufinden hilft. Sie kann mit sich verhandeln und mit den Instanzen in der Brust verhandeln.

Der Beobachter, die Beobachterin wird von manchen als ICH bezeichnet. Oder auch als eine der Instanzen im großen inneren Team. Und das ICH ist auch noch da.

Eine schöne Woche!