In diesem zweiten Teil zum Buch von Dr. Gabor Maté mit dem Titel Wenn der Körper Nein sagt schreibe ich über Selbstregulierung und Aspekte der Biologie von Beziehungen.
Sich selbst regulieren lernen
Kinder und sogar Tierkinder besitzen die Fähigkeit zur biologischen Selbstregulierung noch nicht. Die biologischen Zustände ihres Herzens, der Hormone und der Aktivität des Nervensystems sind noch abhängig von ihrer Umgebung. Sie lernen Selbstregulation im Kontakt zur Umwelt.
Kinder brauchen Beziehungen zu erwachsenen Bezugspersonen, die ihre Emotionen wie Liebe, Angst oder Wut annehmen können, widerspiegeln und halten können. Ein angstvolles Schreien wird mit ruhiger, fürsorglicher Zuwendung beantwortet: Du bist geborgen, in Sicherheit und Bindung. Du schreist voll Zorn? Du bist angenommen und gehalten mit all dem Zorn! Geschieht dies nicht, wird das Kind psychischen Stress erleben.
Jede Störung der Beziehung sorgt für Unruhe im inneren Milieu des Kindes. Wenn es gut läuft, lernt es nach und nach mit Hilfe der erziehenden Personen, diese Unruhe zu regulieren. Es lernt, sich zu beruhigen, lernt, dass Angst und Zorn auch wieder vergehen. Dies ist etwas völlig anderes als die Resignation, die ein Kind erlebt, das man unbegleitet und ohne Trost und Annahme schreien lässt!
Unsere biologische Reaktion auf Probleme, auch die in unserem Umfeld, wird von unseren Beziehungen beeinflusst, von der Bindung, die wir zu anderen Menschen erlebt haben. Diese kann über das weitere Leben so fortbestehen – im günstigen, wie auch im ungünstigen Fall. Eine Anpassungsleistung ist also weit mehr als eine individuelle Leistung: Sie findet in einem System statt.
Krankheit wäre demzufolge kein einfaches biologisches Ereignis in einem für sich allein stehenden menschlichen Wesen. Die Sichtweise des Familiensystems und die Art, wie in einem Familiensystem Gefühle und Ereignisse reguliert werden, werden einen wesentlichen Einfluss haben darauf, wie Menschen mit ihrer Biologie reagieren. In der Beziehung von Mutter und ungeborenem Kind ist diese Verwobenheit noch selbstverständlich in unserer Wahrnehmung. Aber sie endet nicht mit der Geburt oder der physischen Reife. Beziehungen zu unseren Mitmenschen bleiben ein Leben lang wichtige biologische Regulatoren.
Mit anderen emotional in Kontakt und doch auch autonom im eigenen emotionalen Funktionieren zu sein: Dies wäre eine wesentliche Grundlage zur bestmöglichen Gesundheit.
Autonomie in Beziehung
Im Laufe der Entwicklung sollte sich das Selbst für die Gesundheit des Organismus so weit definieren und differenzieren lernen, dass Verbundenheit bei gleichzeitiger Autonomie möglich ist und gespürt werden kann. Es geht um die Herausbildung einer emotionalen Grenze, die verhindert, dass der eigene Denkprozess von einem emotionalen Gefühlsprozess überwältigt wird.
Haben wir diese Autonomie nicht ausgebildet, können wir es zum Beispiel daran merken, dass wir anscheinend automatisch Ängste anderer aufnehmen und ungefiltert in uns selbst erzeugen. Haben wir sie, können wir Mitgefühl spüren, ohne uns dabei zu verlieren.
Der ausreichend differenzierte Mensch kann seine eigenen Emotionen akzeptieren und darauf reagieren, ohne dabei den Erwartungen anderer entsprechen zu wollen. Wir können dann gut unterscheiden, wie wir uns auch unseren Zorn über etwas erlauben können, ohne dass wir unsererseits andere dabei schädigen.
Nicht zu verdrängen, aber auch nicht impulsiv auszuagieren: Dieser Mensch ist Chef im eigenen Ring. Diese einmal erlernte Fähigkeit wird lebenslang in Beziehungen zu anderen Menschen erlebt, wird in ihnen genährt und gestärkt – und wenn es für den Selbstschutz gebraucht wird, kann eine Grenze zur Umwelt gezogen werden.
Je geringer die Fähigkeit zur Selbstregulation in der Kindheit ausgebildet werden konnte, desto schwieriger wird es im weiteren Leben, das innere Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Menschen begeben sich dann unter Umständen in Abhängigkeiten oder sie entwickeln das gegenteilige Muster der weitestgehenden Abgrenzung zu ihrem Umfeld.
Wenn wir uns nur schwer regulieren können, wird alles schwer. Wir entwickeln zwar Strategien zur Bewältigung, aber: In festgefahrenen Lebensstrategien liegt die Gefahr des Stresses – oft als permanente innere Anstrengung empfunden. Der Organismus ist dann dauergestresst.
Der Organismus kann solchen andauernden Stress nicht ohne Hilfe verarbeiten. Bluthochdruck ist eine der möglichen Folgen. Ihn mit Medikamenten zu behandeln ist sicherlich oft nötig – zur Abwendung irreparabler körperlicher Schäden. Allerdings ist diese Behandlung nichts als eine Krücke. Gesundheit erlangen kann der Organismus hierdurch nicht. Der Organismus kann jedoch lernen, Emotionen zu regulieren, Autonomie aufzubauen – Gesundheit wäre dann mehr als die Abwesenheit von Krankheit!
Eine gute Woche!