Das Gehirn und ich – unvollständige Gedanken und eine Übung

Paul Broks schreibt sinngemäß in seinem Buch mit dem irritierenden Titel „Ich denke, also bin ich tot“ * (englisch „Into the Silent Land. Travels in Neuropsychology“ 2003), dass die ersten Aufnahmen unseres Planeten aus der Mondperspektive unsere Sicht auf uns selbst verändert hätten. Es sei uns die Kostbarkeit und Verwundbarkeit unseres Zuhauses in den Blick und ins Bewusstsein gekommen.

Ebenso sei es seinen Studierenden ergangen, als er nach der Einführungsvorlesung zum Gehirn ein solches aus dem Kasten nahm. Die Sicht von außen verändere etwas in unserer Haltung.
Nun, ein Gehirn werden wir wohl selten zu Gesicht bekommen, aber vielleicht kann die wunderbare Seite im Web „3d.dasgehirn.info“ etwas Ähnliches hervorlocken: ungeheuren Respekt – und auch eine Entmystifizierung. So also siehst Du aus, Du Gehirn, hmhm. Ein Spaziergang auf dieser Seite ist für mich mehr als das Betrachten von Bildern, es liegt wohl an der transparenten Darstellung.

Wo glauben Sie, glaubst Du, sitzt das „Ich“? Das Bewusstsein, das Denken, Fühlen, die Impulse zum Handeln… Vielleicht findet der Zeigefinger gerade den Weg zur Stirn: Na hier!
Hier sitzt das Bewusstsein seiner selbst – dieser Gedanke ist seltsam. Das Gehirn denkt sich selbst.

Soweit, dass ich gedanklich das Selbstbewusstsein auf die Stirnlappen reduziere, will ich gar nicht gehen. Ich stelle mir vor, mein Gehirn sei in Gänze, aber isoliert, in einer Nährlösung mit allem versorgt, lebensfähig. Vielleicht braucht es etwas Elektrizität. Die Nervenzellen feuern, die Synapsen übertragen, die Netzwerke sind aktiv – so herausgelöst aus meinem Schädel, meinem sonstigen Körper – bin das dann Ich? Verpflanzt in einen anderen Schädel, denkend in einem anderen Körper – ICH?

Dass früher die Seele im Herzen verortet wurde, wird allgemein so erzählt, darüber fühlen wir uns erhaben, oder? Wir haben das Herz als Muskel mit Ein- und Ausgängen vor Augen und sagen: Nur ein Organ unter vielen. Obgleich wir uns beim Denken an Gefühle doch mal an der Brust berühren, manchmal am Bauch.

Unser Hirn, darin verorten wir unser Denken, soweit so gut. Ist das schon unser „Ich“? Sind wir gemeinsam auf dem Weg zu erkennen, dass das nicht alles sein dürfte?

Ist es der ganze Körper, füllt unser Ich ihn aus? Wie also werden Erkrankungen und gar Verluste am Körper unser Ich-Bewusstsein verändern? Wie auch alles Schöne, Empfindung von Gesundheit, Da-Sein mit dem ganzen Leib?

Die kalten Füße, sie gehören zum Ich, vielleicht fällt die Konzentration schwerer, auf das, was ich gerade schreibe. Im Hirn wird gefeuert: „Zieh endlich Socken an!“

Wir schauen mit unserem Bewusstsein auf unseren, in unseren ganzen Körper, machen unsere Beobachtungen, sehen ihn zum Beispiel altern, aber etwas in uns sagt: „ich bin immer noch dieselbe / derselbe!“ Alte Menschen sagen, sie seien wohl alt, aber im Inneren sehen sie sich nicht als alter Mensch. Sie sind einfach sie selbst. Wo ist es, das Selbst?

Manche Neurowissenschaftler beschäftigen sich mit solchen Fragen und Paradoxien.

In diesem Moment betritt ein lieber Mensch den Raum. Wärme durchströmt den Körper, der Leib mitsamt dem Hirn „vergisst“ die kalten Füße, die Welt hat sich verändert, mit ihr das Bewusstsein meiner selbst.

Broks schreibt in seinem Buch „Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne“, es gäbe keine klare Trennlinie im Gehirn zwischen inneren Vorstellungen und den Wahrnehmungen der realen, stofflichen „Welt da draußen“. Realität und Phantasie entstünden in denselben neuronalen Schaltkreisen. Sind wir mit unserem Ich mehr als unsere inneren Welten, weist unser Ich über uns hinaus? Alles hinterlässt Spuren, sogar physisch beobachtbare, Erfahrungen können Vernarbungen mit sich bringen.

Und wieder die Frage, was geschieht bei physischen Veränderungen, diesmal im Gehirn selbst? Ein Schlaganfall, oder, weniger dramatisch, unter Drogeneinfluss, wo ist unser Ich und wie ist es nun?

Dass unser Hirn unverzichtbar sei für unser Ich-Bewusstsein, ist wohl immerhin unstrittig. Mit diesem Organ oder System können wir uns selbst beobachten, verrückt, nicht wahr? Und nützlich!

Eine kleine Übung zur Selbst-Bezeugung: Zweck der Übung ist, die Wahrnehmung unserer selbst ins Bewusstsein zu bringen, Zeugin / Zeuge zu werden bedeutet, die Selbstregulation zu stärken. **

Üben wir uns darin, den Augenblick zu erfassen, bevor wir etwas tun!

  1. Unterbrechen wir, stoppen wir alles, was wir im Moment tun, drücken wir innerlich und äußerlich die Pausetaste. Jetzt!
  2. Wenn wir dies geübt haben, registrieren wir: Wie erleben wir einen solchen Moment? Wiederholen wir diesen Vorgang! Jetzt!
  3. Verfolgen wir, wie sich dies im Körper spiegelt!
  4. Verweilen wir wo wir mögen, einfach nur wahrnehmen!
  5. Nun setzen wir die Handlung fort, die wir unterbrochen haben. Gibt es Unterschiede im Erleben?

Dies integriert in den Tagesablauf stärkt unser Ich-Bewusstsein – wo immer es sei ?

Eine schöne Woche!

* Nur noch antiquarisch erhältlich

** Auf Deutsch neu erschienen: Manuela Mischke-Reeds, Somatische Psychotherapie, Lichtenau/Westf. 2019