Manchmal ist es besser, zu gehen

Etwas zu beenden, das uns belastet, fällt nicht jeder, nicht jedem gleich leicht. Heute will ich für diejenigen unter Ihnen schreiben, die sich damit eher schwertun.
Aus der Fortbildung bei Gunter Schmidt* fällt mir immer wieder mal der Satz ein, den er gern wiederholte: „Es ist nicht einfach, aber machbar, nicht einfach, aber machbar!“ Ich mag diesen Satz sehr.
Es ist gut, all die möglichen Widrigkeiten zu bedenken und die eigenen Befürchtungen als wichtig anzuerkennen, es ist gut, sich nicht in die Tasche zu lügen bei dem Vorhaben, einer Situation ein Ende zu setzen. Es könnte tatsächlich sein, dass einiges gefragt sein wird: Durchhaltevermögen, Standfestigkeit, Selbstvertrauen, Unterstützung durch wohlgesonnene Mitmenschen. Ihnen fällt wahrscheinlich noch einiges dazu ein!
Auch ist es gut, dieses „nicht einfach“ nicht zu verwechseln mit „zu schwierig“!
Gut gewappnet und vorbereitet in Veränderungsprozesse einzutreten, die man selbst anstrebt und zielgerichtet verfolgen will, hilft bei der Umsetzung.

Der zweite Teil, „..aber machbar!“ benötigt noch etwas Unterfütterung. Was hilft uns, wenn wir merken, hier stecken wir fest, hier wollen wir raus, so wollen wir nicht weiter machen, das wollen wir nicht länger hinnehmen, nicht länger genötigt sein, mitzumachen? Was hilft uns?

Als ich unlängst in alten Ordnern blätterte, aus der Zeit meiner ersten Ausbildung, die zur Zulassung als heilkundliche Psychotherapeutin durch das Gesundheitsamt führte, fand ich ein sehr schönes Arbeitsblatt mit dem Titel „Self Care – Umgang mit Belastungen“. ** Hierbei geht es nicht speziell um die oben beschriebenen Veränderungsprozesse, es geht bei dieser Selbstfürsorge vor allem um Erhaltung der (seelischen) Gesundheit, um Burnout-Prävention. Dennoch: Es passt auch hier!

Ich möchte aus diesem Arbeitsblatt einige Sätze zitieren und ein wenig dazu erzählen, damit es etwas vorstellbarer wird, worum es geht.

  1. Fragen zur eigenen Belastungsgrenze

„Woran erkennen Sie die Grenzen Ihrer eigenen Belastbarkeit? Wie genau schaffen Sie das?“
Ich hole etwas aus: Hier denke ich zurück an die letzten Monate meiner Tätigkeit an einer Förderschule. Ich mochte meinen Beruf, es machte mir Freude zu erleben, wie Schülerinnen und Schüler Selbstvertrauen entwickelten, Erfolge erlebten, Fortschritte lernten wahrzunehmen und Schritt für Schritt begannen, die Schule zu schätzen, gern in den Unterricht kamen und auch lernten, im Miteinander friedlicher und fröhlicher zu werden. Ich durfte eine gute Zeit erleben, geprägt von vielen Freiräumen für eigenen Ideen, von Vertrauen durch die Schulleitung und auch von kollegialem Zusammenhalt. Zeit bleibt nicht stehen, Situationen ändern sich. In meinen Augen hat eine verfehlte Schulpolitik etwas in Gang gesetzt, das an gut funktionierenden Förderschulen zum Schlechten führte. Kollegialität, Führung, Leitlinien der Arbeit, alles änderte sich.
Dem Entscheid, zu gehen ging voraus, dass ich bei mir selbst Veränderungen wahrnahm, die ich nicht an mir mochte. Meine Antwort auf die obige Frage lautete damals: „Wenn ich innerlich nicht zur Ruhe komme, wenn ich nicht mehr abschalten kann, gereizt reagiere, nachts wach werde und an die belastende Situation denke – dann erkenne ich die Grenze meiner Belastbarkeit.“ Damals habe ich es nach einiger Zeit geschafft, anzuerkennen, dass es so nicht weiter gehen sollte, wenn ich meine Gesundheit nicht gefährden will. Ich habe es geschafft, indem ich die Reaktionen meines Körpers wahrgenommen, ernst genommen und wichtig genommen habe: Mein Köper schreit „Hilfe“ und ich höre ihm zu.

„Wie haben Sie es in der Vergangenheit geschafft, sich vor einer Überlastung zu schützen?“
Diese Frage stelle ich heute häufig meinen Klientinnen und Klienten. Es ist ja so, dass wir alle im Leben schon etwas gemeistert haben, für uns gesorgt haben und in unserem Sinne entschieden haben – ansonsten wären wir ja gar nicht da, wo wir sind. Nur leider, in einer Krise denken wir nicht immer daran, was wir an Stärken mit uns herumtragen, sie sind aus dem Blickfeld geraten, wir sind in der Gefahr, das Augenmerk einseitig auf unsere Schwächen zu richten.
Ein innerer Spaziergang durch unser Leben mag dann unsere realistische Sicht auf unsere Stärken wieder freigeben. Als Baby haben wir gebrüllt, wenn uns zu warm, zu kalt, zu nass im Schritt war. Als Kleinkind haben wir gelernt, dass uns irgendwann die Reize der Umwelt mal zu viel werden können, dass wir uns mal auf uns besinnen, vielleicht mit dem Daumen im Mund, still in der Ecke sitzen möchten, mit dem Kuscheltier zur Ruhe kommen, bis wir wieder in Kontakt sein wollen, die Welt erleben. Im Kindergarten hatten wir hoffentlich betreuende Personen, zu denen wir laufen konnten, wenn Klaus oder Erna und mit Sand beschmissen haben und unser „Hör auf!“ nix genützt hat. Als Schulkind hatten wir hoffentlich Eltern oder andere erziehende Personen, die verständnisvoll und tröstend auf all die kleinen und größeren Kränkungen eingegangen sind, uns vielleicht eine neue Sicht auf das Erlebte ermöglicht haben – all das hat uns geschult.

Wenn uns die Unterstützung manches Mal gefehlt haben sollte – dann haben wir in der ein oder anderen Weise gelernt, uns selbst zu helfen. Nicht immer sind die Versuche, sich selbst zu helfen, auf lange Sicht sinnvoll. Manchmal schädigen sie uns – das gilt für alle von uns, die ihren Kummer oder ihre Angst mit Substanzen bekämpfen wollen. Hier gilt es zu erkennen, dass diese uns weiter schwächen. Was haben wir getan, um uns selbst zu helfen, bevor wir Nikotin, Alkohol, Drogen entdeckt haben? Manchmal kann der passende Weg sein, Unterstützung, die gefehlt hat, im Jetzt zu suchen und etwas nachzuholen. Manchmal ist die passende Person eine Therapeutin oder ein Therapeut. Dort kann die Antwort dann gemeinsam gefunden werden: Da ich am Leben bin, habe ich mich auch schützen können! Vielleicht frage ich mal eine Person aus meinem Umfeld, die mir bei der Antwort vielleicht helfen kann!

  • Fragen zur Abgrenzung

„Wer aus Ihrer Familie hat Sie dazu ermutigt, für sich selbst zu sorgen und sich gegebenenfalls klar abgrenzen zu dürfen? Welchen Rat würde Ihnen diese Person heute geben? (Es kann auch ein befreundeter Mensch, eine Lehrkraft, eine kurze Bekanntschaft sein.)
Manchesmal ist es uns nicht so schnell deutlich, wo wir im Leben Unterstützung hatten. Wir denken eher über Stolperfallen nach, Beinesteller… Das hat in der Entwicklung der Menschheit seinen Sinn gehabt, so schreiben einige Wissenschaftler. Es sei überlebenswichtig gewesen, sich der Gefahren stets bewusst zu sein und das daraus Gelernte stets parat zu haben. Ich weiß es nicht, ob das so stimmt. Ich weiß aber, dass es für uns heutzutage überlebenswichtig sein könnte, all das, was uns stützt, wahrzunehmen und wertzuschätzen. Ich lade Sie daher herzlich ein, sich jetzt einen Moment dafür Zeit zu geben: Wer hat mich ermutigt, zu mir zu stehen, mich selbst wichtig zu nehmen, auch einmal „Nein!“ zu sagen oder „Stopp!“?
Gefunden? Und was glauben Sie, wäre der Rat dieser Person, der Zuspruch, den Sie heute erhalten würden?
Mir ist meine Mutter eingefallen. Sie hatte es schwer, wir hatten es miteinander schwer. Es war auch vieles an Belastung gerade durch sie. Aber sie stand dafür, eine eigene Haltung zu bewahren und auszudrücken, das sehe ich heute! Sie hat es vorgelebt, sie hat auch einstecken müssen dafür. Sie würde mir sagen: „Das musst du nicht! Wer sollte Dich zwingen?“ Das denke ich heute mit dem inneren Bild, das ich für meine Mutter gefunden habe, und auf dieses kommt es an.
So kann es sogar sein, dass wir Stärkendes von Menschen erfahren, die keineswegs stets unserer Meinung sind, die uns auch einmal quer kommen, die aber für den Wert stehen, dass wir alle unser eigenes Leben leben und unsere eigenen Ziele verfolgen dürfen!

Und zum Schluss: „Wenn Sie Ihr eigener Selbstfürsorge-Berater wären, welchen Rat würden Sie sich geben?“
Methode eins: Geben Sie Ihrer inneren Stimme, die Ihnen sagt, dass Veränderung vonnöten wäre, eine Gestalt! Geben Sie ihr einen Körper, Gesichtszüge, Bewegungsmuster, Klangfarbe, vielleicht sogar einen Duft. Verleihen Sie ihr einen Namen. Ich erzähle Ihnen nicht, wie meine aussieht, Sie finden die Ihre, bestimmt! Klientinnen und Klienten sagen oft: „Ich kann das nicht, schon gar nicht kann ich dazu etwas aufmalen!“ Und wenn sie es dann doch tun, kommen sehr sprechende Figuren dabei heraus, Strichfrauchen oder -männchen mit unverkennbarem Charakter! Und wenn Sie Ihren inneren Berater gefunden haben: Lassen Sie sie / ihn sprechen und hören Sie zu!
Methode zwei: Zwei Stühle, einer leer, auf einem sitzen Sie. Schildern Sie dem anderen Stuhl Ihren Konflikt! Wechseln Sie den Platz, Sie sitzen nun auf dem Berater-Stuhl! Schauen Sie sich an: Wie sieht es aus auf dem anderen Stuhl, auf dem Ihr ratsuchendes Ich sitzt, lauschen Sie den Worten nach… Und dann geben Sie vom Berater-Platz aus Ihren Senf dazu! Wechseln Sie so lange die Plätze, bis Sie auf Ihrem Stammplatz den Eindruck haben, die beratende Position verstanden zu haben!

Viele neue Erkenntnisse wünsche ich Ihnen!

Ulrike Roderwald

* Leiter des Milton Erickson Instituts Heidelberg

** Danke, Rainer Müller, Diplom-Psychologe in Hamburg! Deine Seminare waren die besten!