Wie wir uns – scheinbar automatisch – beschränken, wo es – vermutlich – überflüssig ist

Am Beginn dieser Woche bin ich aus mehrerlei Gründen sehr erschöpft. Wenn das so ist, aber die Erschöpfung nicht ausreicht, um diesen unangenehmen Zustand einfach zu überschlafen, dann guck ich gerne youtube, besonders gerne Vera Birkenbihl. Nicht, dass ich alles teilen mag, was sie so gesagt und geschrieben hat, aber ich genieße es, ihr zuzuhören und zuzuschauen! Da ist viel Quer-Denken und viel Humor. In einem Vortrag, den sie 1993 gehalten hatte, erwähnte sie Ron Smothermon. Und da fiel mir ein, dass ich ein Buch von ihm habe, und dass dieses zu den sehr wenigen gehört, die ich im Laufe der Jahre immer mit umgezogen, nicht weiterverkauft, verschenkt, liegengelassen oder weggeschmissen habe. Das „Drehbuch für Meisterschaft im Leben“, 1. Auflage 1986.

Einen Gedanken daraus habe ich mir damals beim Lesen gemerkt und bis heute behalten: Wer Schuldgefühle hat (Ich würde es heute Schulkonzepte nennen.), hat die Münze, mit der er bezahlt, damit er es wieder tun kann. Mit einigen sehr wenigen Sätzen ist es mir im Leben so ergangen, dass sie auf derart fruchtbaren Boden fielen, dass sie unmittelbar meine Haltung geändert haben. Dies ist einer davon. Aber über diesen Satz schreibe ich heute nicht, sondern ich nahm das Buch hervor und suchte nach einem Text, über den ich heute schreiben möchte. Hieraus wurde folgendes:

Ron Smothermon also… Wie ich gerade sehe, dieses Buch wurde 2019 neu aufgelegt. Bei amazon sind Begeisterung und Verriss – beide mit Leidenschaft vorgetragen – nachzulesen. Ich mache keine Werbung für das Buch, da ich zu häufig sehe, dass unglückliche oder verzweifelte Menschen nach einer Richtschnur in Büchern suchen, dann feststellen, dass sie keine Hilfe daraus entnehmen konnten, sich dies dann als Versagen selbst anlasten und noch mehr Verzweiflung oder Resignation anhäufen. Solche Autoren, die vorgeben, zu wissen, wie allen geholfen wäre, rate ich, mit kritischem Abstand zu lesen. Und dann lässt sich gegebenenfalls doch etwas Hilfreiches finden, mir ist es ja auch so ergangen.

Meine Herangehensweise an eine angestrebte Veränderung hin zu einem gewünschten Erleben ist, wie ich behaupte, vielschichtiger und differenzierter als diese in die Jahre gekommenen Texte. Und dennoch: Wie bei Birkenbihl finde ich einiges doch auch bedenkenswert oder gar überzeugend.

R.S schreibt sehr kategorisch, mit einem Ton, der da zum Ausdruck bringt: „Ich weiß es!“ Manchmal schreit er die Lesenden quasi an, indem er in Großbuchstaben schreibt. Kann sein, dass manches an der Übersetzung liegt, und in jedem Fall ist es so, dass Belehrungen nicht besonders gut zu meinem persönlichen Geschmack passen. Ich werde schauen, dass ich eher meine Sprache benutze, wenn ich seine Gedankengänge wiedergebe.

Zu Anfang des Buches schreibt er über „Glaubenssysteme“, die ich eher als Grundhaltungen und Vorannahmen verstehe. Eine solche Grundhaltung habe ich einmal sehr spaßig in einem Buch zur Führerscheinvorbereitung gelesen: „Augen an Hirn: Da kommt ein Auto von rechts.“ Hirn: „Das kann nicht sein, aus dieser Straße ist noch nie ein Auto gekommen!“ Bis heute weht dieser Scherz durch mein Hirn, wenn ich in bekannten Gegenden mit „Rechts-Vor-Links-Regel“ unterwegs bin, und ich bin besonders aufmerksam, ob diese Vorannahme, dass da kein Auto kommen kann, der Realitätsprüfung standhält.

Sätze, die in unserem Gedankengebäude mit „Es kann nicht sein, dass…“ beginnen, sollten wir also mit Aufmerksamkeit wahrnehmen, wenn wir in unserem Leben dafür offen sein wollen, dass es diesmal anders sein könnte, als wir es bisher zur Kenntnis genommen haben.

Beispiele nach R.S.: „Völlig unmöglich, dass wir uns je lieben könnten. Das kann nicht sein, dass ich in der Schule jemals Erfolg haben könnte. Meine Mutter könnte sich niemals ändern. Das gibt es nicht, dass mein Chef jemals vernünftig sein könnte. Ich könnte nie Schwimmen lernen. […] Es ist unmöglich, dass diese Welt jemals ohne Kriege und ohne Verhungern sein wird. Es geht nicht, dass Leute in enger Beziehung miteinander leben, ohne erbitterten Streit zu haben.“
Vorannahmen benötigen wir, um uns zu orientieren, aber an diesen Beispielen wird für mich deutlich, dass daraus auch Begrenzungen der eigenen Handlungsfähigkeit entstehen können und auch das Erleben der Umwelt durch einen Filter zu laufen droht, der unser Erleben verengt.

Einerseits sind diese Gedanken keine große Erkenntnis. Sie leuchten unmittelbar ein. Ich wage aber die Behauptung, dass fast jede*r von uns mit solchen oder ähnlichen Vorannahmen durchs Leben geht und dass die ursprüngliche Funktion solcher Sätze, Orientierung zu ermöglichen, im Laufe des Lebens im Grunde immer überflüssiger wird. Mit dem Erwachsengewordensein benötigen wir sie nach meinem Verständnis erheblich weniger als in der Pubertät und im Heranwachsen. Manchmal laufen sie dennoch unbewusst weiter mit und werden dysfunktional.

R.S schreibt, die Sklaverei sei nicht innerhalb eines Glaubenssystems beendet worden, sie sei  von außerhalb beendet worden. Es war also nötig, sich die Welt ohne diese Gesellschaftsform vorzustellen. (Gestern in der Talkshow bei Anne Will saßen zwei Herrschaften, die sich nicht einmal die Erhöhung des Mindestlohns vorstellen konnten – nein, unvorstellbar, dass das gut gehen könnte! Auch die Schilderung der Armut in unserem reichen Land, Stichwort Angewiesensein auf „Tafeln“ für Lebensmittel, ließ sie nicht straucheln in ihren Vorannahmen.)

R.S behauptet, das Leben funktioniere nicht wegen, sondern trotz unserer Überzeugungen, weil es nämlich ziemlich unverwüstlich sei. Diesen Gedanken will ich in dieser Woche einmal wälzen und auch sehr auf meine Überzeugungen achten. Der Preis ist vermutlich eine Verlangsamung meiner Reaktionen – der Gewinn könnte sein, dass manches spannender und lebendiger wird. Mehr Fantasie, mehr Wagnis, welch eine Verlockung!

Eine erfrischende Woche!