Ziele, Wünsche, Hoffnungen im Alter und bei Krankheit

In meinem privaten Umfeld und auch in meiner Praxis begegne ich Menschen, die ihr Leben anders gestalten müssen, als sie dies ursprünglich geplant hatten.
Eine Krankheit oder das erreichte Lebensalter macht manch einer Planung einen Strich durch die Rechnung. Der Körper arbeitet nicht mehr so, wie er es bis dahin recht zuverlässig getan hatte. Einige sind überrascht, dass die Einschränkungen sich als umfassender erweisen als gedacht.
Ich nehme mich nicht aus: Weiß ich doch, dass mit dem Älterwerden solche Einschränkungen einhergehen – und will es dann doch nicht wahrhaben, dass ich nicht mehr jedes Möbelstück alleine verrücken kann…
Vielleicht hat der eine oder die andere Angst vor dem Alter, davor, dass die Sinne und die Beweglichkeit, die Kräfte und Fähigkeiten nachlassen.
Wunden heilen langsamer, Infekte sind hartnäckiger – die meisten Menschen bemerken das ab einem gewissen Alter und wundern sich vielleicht darüber, weil sie insgeheim glaubten, bei ihnen käme es später oder eben nicht so schlimm. Im Kopf fühlen sich die meisten doch noch genau wie immer, oder?
Womöglich bin ich etwas geduldiger geworden, etwas reflektierter, naja, das Gedächtnis ist nicht mehr ganz so fit, aber damit lässt sich’s leben.
Und dann kann es knüppeldick kommen und eine chronisch verlaufende Krankheit stellt einen Menschen vor Aufgaben, auf die er nicht vorbereitet war. Ganz besonders hart trifft eine Erkrankung, bei der man weiß, dass das Leben bald zu Ende sein wird, wie sehr man sich auch bemühen mag, das Verweilen zu verlängern.
Schwer zu ertragen sind hirnorganische Prozesse, die in der Psyche, in der Körperlichkeit und im Verhalten Veränderungen bewirken, die der Mensch nur bedingt steuern kann und die in der Umgebung Befremden, Angst oder Verzweiflung auslösen können.
Der Mensch ist aus der Spur.
Was mich berührt und was mir den Kontakt mit einem so getroffenen Menschen besonders wertvoll macht, ist es, zu erleben, wie sehr ein jeder, eine jede menschlich bleibt:
Da gibt es einen festen Willen bei von Demenz betroffenen. Da kann es ja sein, dass die anderen immer sagen, der Lebenspartner sei verstorben – seine Lieblingsdecke muss gewaschen parat liegen, fertig! Und es kann ja sein, dass die Familie sagt, es sei mitten in der Nacht – man fühlt sich fit und will jetzt Wäsche waschen. Auch plant man, heute mal den Garten umzugraben – dass das schon lange nicht mehr geht, ist im Moment nicht im Kopf. Sich etwas vorzunehmen, sich das vorzustellen und anderen mitzuteilen – das gehört zum Mensch-Sein dazu.
Wie damit umgehen als Familienmitglied oder Freund? Was zu vermeiden wäre, ist klar: Nicht alles ausreden wollen, nicht immer besser wissen, nicht zürnen oder gar lächerlich machen. Stattdessen? Zu begleiten, zu schauen, was sich verändert, die Bedürfnisse hinter all dem entdecken und auf sie eingehen, wenn möglich. Alternativen anbieten, und wo dies nicht geht, die Gefühlsäußerungen aushalten…
Der alte, kranke Mensch hat Bedürfnisse, Wünsche und sogar Ziele, selbst wenn es schon zu Ende geht. Vielleicht kann man einen Wunsch erfüllen? Vielleicht ist es gut, sich gemeinsam ein Ziel auszumalen, wissend, dass es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass es noch erreicht werden kann? Da träumt ein Sterbenskranker von einer Motorradtour? Träumen Sie mit, wenn Sie können! Da wünscht sich jemand die Rückkehr ins Arbeitsleben? Warum ihn dieses Wunsches berauben? Reden Sie ihm oder ihr nichts schön, aber versinken Sie nicht mit ihm oder ihr in Hoffnungslosigkeit!
Bei einer lang andauernden Krankheit kann es gut für den Menschen sein, sich nach und nach neue, realistische Ziele zu setzen. Etwas geht nicht mehr? Vielleicht kann etwas Neues gefunden werden? Akzeptanz schütteln die wenigsten aus dem Ärmel, es braucht Zeit.
Ich denke nicht, dass es leicht ist, diese Prozesse zu begleiten. Ich denke schon, dass wir auf den kranken, alten Menschen hören können, hinspüren, was ihn oder sie umtreibt, ihn oder sie den Weg weisen lassen und selbst nur dann ein wenig anschieben, wenn es gebraucht wird. Dazu gehört, da zu sein, aufmerksam, bereit.
Wenn Sie zu denen gehören, die sich um einen solchen Menschen kümmern, dann geben Sie viel Kraft in diese Aufgabe. Achten Sie auf sich! Schauen Sie nach guter Unterstützung, auch für sich selbst!