Zu glauben, man könne nicht. Zu glauben, man kann.

Eine plötzlich einsetzende Krise – nicht nur eine Pandemie – eine Krise, mir der in keiner Weise zu rechnen war, die uns folglich anscheinend unvorbereitet trifft, kann eine Schockreaktion hervorrufen. Die Reaktion kann verstörend sein, sowohl für die reagierende Person, die sich selbst so noch nicht kannte, als auch für die Umgebung.

Neben den Reaktionen, die nicht so wirklich hilfreich sind, wie z. B. Nicht-Wahrhaben-Wollen, Ich-Kenne-Die-Schuldigen-Behaupten oder Dahinter-Stecken-Geheime-Mächte-Verbreiten gibt es erstaunlich starke Reaktionen. Von einer will ich erzählen.

Maria Busqué, Cembalistin, Pianistin, Klavierpädagogin und Resonanzlehrerin in Berlin schreibt in ihrem Blog über ein unerwartetes Ereignis: Maria João Pires, die portugiesische Pianistin, erwartete ein anderes Konzert. Nicht als Teil des Publikums, sondern als tragende Akteurin, als Star auf der Bühne. Ich zitiere aus Maria Busqués Blog (mariabusque.net), es ist so schön beschrieben:

„Auf dem Video sehen wir sie mit eingezogenen Schultern. Es erklingen die ersten Takte des d-moll Klavierkonzertes von Wolfgang Amadeus Mozart. Pires, deren Gesichtsausdruck mehrere Gefühle gleichzeitig verkörpert – von Scham, über Verzweiflung bis hin zu Entschlossenheit – stützt ihren Kopf mit einem Arm auf dem Klavier. Sie schaut zum Dirigenten hoch. „Ich werde es versuchen“, sagt sie.

[…] Sofort bei der ersten Note hat Maria João Pires gemerkt, dass sie das falsche Klavierkonzert von Mozart vorbereitet hat. Die Musik erklingt, das Publikum wartet.

Und sie ist nicht vorbereitet.

[…] das Orchester entwickelt gerade das Hauptthema. Und hier ist Pires, die sich langsam an die Idee gewöhnt, dass sie ein 25-minütiges Stück vortragen wird müssen, ohne es vorbereitet zu haben.

Auf dem Video schaut Chailly sie vom Dirigentenpult aus an.

Sie: „Ich hatte ein anderes Konzert auf meinem Kalender stehen…“ […] Er lächelt. „Du kannst das schaffen. Ich bin mir sicher, du wirst es gut spielen.“

Das Orchester übergibt der Pianistin seinen letzten Klang. Maria João Pires beginnt zu spielen.

Und dann geschieht das Wunder. In den ersten Takten führt ein Klang zum nächsten. Sie spielt mit einer Hingabe, die mir den Atem raubt.

Das Leuchten in ihrem Klang.

Ich bin tief berührt.“

© Copyright 2007 – 2020 Maria Busqué

So geschehen 1997, ein kleiner Ausschnitt ist auf YouTube zu sehen: Maria Joao Pires expecting another Mozart concerto during a lunchconcert in Amsterdam (ab Minute 2:16).

Carolin Emcke sieht darin eine Metapher für unsere jetzige Situation: Ohne Schutzmantel auf etwas Unvorhergesehenes zu treffen und sich nach dem Überwinden des Schocks zu erinnern, dass wir auf Erlebtes und Bewältigtes zurückgreifen können, wenn wir die Krise meistern wollen. (Carolin Emcke schreibt zurzeit ein Journal „Politisch-persönliche Notizen zur Corona-Krise“ in der Süddeutschen Zeitung und war am Sonntag, 16.05.2020 in 3sat in Sternstunde Philosophie zu sehen und zu hören. Beides findet sich im Internet.)

Und wenn es nicht beim Moment bleibt? Wenn die Dauer einer Krise nicht bestimmbar ist? So ergeht es den Geflüchteten in den Lagern an europäischen Grenzen, so ergeht es der Bevölkerung in Kriegen, den in Gefängnissen Eingesperrten in Ländern ohne klar geregelte Rechte. Emcke schreibt über die Wichtigkeit von Ritualen und dem Kontakt zu mindestens einer Freundesperson. So lässt sie sich täglich eine türkische Vokabel zuschicken, die sie dann auswendig lernt.
Mir gefällt daran: Eine! Es wäre verfehlt, jetzt in Arbeits- oder Lernwut zu verfallen, wenn aus der unbestimmten Zeit kein Chaos werden soll. Denn diese Zeit benötigt Struktur, Aufmerksamkeit, auch nach innen, Innehalten, Unterbrechen des Gewohnten. Ohne das wird es schwer sein, eine länger dauernde Ungewissheit zu bewältigen.

Emcke schreibt, sie habe sich auf ein Jahr Ausnahmezustand eingestellt, mit Lockerungen und auch mit Erschwernissen, die von Tag zu Tag veränderlich sein könnten. Sie schreibt, sie könne besser vom Ende her denken, wenn es denn geschafft sein wird, so zum Beispiel der Impfstoff verfügbar sein wird, als sich heute von Tag zu Tag womöglich selbst zu belügen.

Ja, ich denke auch, das könnte ein Schleudergang werden, wenn wir Tag für Tag der Presse folgend uns ausmalen, dass es ab morgen einfacher werden wird. Das wissen wir nicht. Niemand.

Vom Ende her zu denken heißt für mich auch: Was brauche ich, um zu diesem Ende zu kommen? Was ist heute nötig, was habe ich in mir zur Verfügung, was will ich mit lieben Menschen teilen, wo will ich um Unterstützung nachfragen, falls es zu schwierig wird? Was will ich an Unterstützung geben?

Vom Ende her zu denken heißt für mich eben auch, auf Schlimmes innerlich vorbereitet zu sein. Auch wenn es hier bei uns gerade nicht danach aussieht: Es könnte sich ändern, die Ansteckungsgefahr könnte immens steigen, mein Körper könnte Schaden nehmen. Was kann ich dann tun und bis dahin schon vorbereitend durchdacht haben? Es wird noch genügend geben, das ich nicht vorhersehen kann.

Die eingangs geschilderte Situation traf die Pianistin nur insoweit unvorbereitet, als sie nicht damit gerechnet hatte, ein anderes als das im Kalender vermerkte Konzert spielen zu müssen. Sie hat vielleicht auch Scham empfunden, als sie blitzartig dachte: Wie konnte mir das passieren? Unterstützung kam von außen: Jemand traut es ihr in aller Gemütsruhe zu, das Konzert zu spielen. Die Unterstützung kam aus ihr selbst heraus: Sie hatte dieses Konzert schon gespielt, es war nicht neu. Und sie hat sich entschieden: Ich mach’s, ich spiele. Insoweit war sie vorbereitet: Damit, eine solche Entscheidung grundsätzlich treffen zu wollen.

Was haben wir in unserem Leben nicht schon alles gelernt! Schon der erste eigene Atemzug war unverhofft! Auf einmal draußen musste das Leben selbst gelebt werden, wenn auch mit viel Unterstützung. Laufen lernen: Hinfallen und Aufstehen. Wir erinnern uns – der nicht bewältigbare erste Liebeskummer hat uns am Ende doch nicht verschwinden lassen.

Wir haben die Entscheidung zu atmen nicht selbst getroffen, denn dazu braucht es ein Bewusstsein. Es war der Leib, er tat es einfach. Dennoch war das Erleben von Hinausgworfensein in die Welt ein Moment der Autonomie. Das Laufenlernen war ebenfalls noch in vielen Teilen von Reflexen gesteuert. Die Neugier hat geholfen, die Welt entdecken zu wollen, zum Können gehörten die postnatalen Reflexe. Das Bewusstsein reift schon heran. Auch hierbei: mit jedem Schritt ein Erleben von Autonomie. Der Erste Liebeskummer: Es war nicht in unserer Macht, ihn zu vermeiden, das Objekt der Begierde entzog sich, fertig! Und das Hirn weigerte sich zusammen mit allen Eingeweiden, das egal finden zu wollen. Wir haben uns in diesem Prozess extrem gespürt. Und als wir durch waren, vorbei, bis auf das leise Wehen der Trauer um Verlorenes – wir waren wieder im Zustand erlebter Autonomie.

Das Erleben von Autonomie ist neben dem Erleben von Bindung für uns Menschen überlebenswichtig. Es braucht beides.

Wir könnten uns durch die Krise bewegen, indem wir das Augenmerk auf das richten, was wir an Kräften in uns tragen, was uns bei allen Abhängigkeiten unabhängig sein lässt: Wir und nur wir selbst entscheiden. Wir und nur wir selbst können beschließen, wie wir den Widrigkeiten begegnen wollen.

Wir sind mit dem falschen Stück bis hierher gekommen? Wir haben uns womöglich vertan? Wir hatten anderes erwartet? Na denn. Hau‘n wir in die Tasten und spielen die Töne, die wir können!

Eine gute Woche!