Chronisch krank – hilflos? Momentan erlebe ich mich selbst als hilflos.
Es gibt Klient*innen, die so viele Widrigkeiten und Erschwernisse in ihrem Leben zu verarbeiten haben, dass sie wieder und wieder an ihre Grenzen kommen. Es ist dann beeindruckend zu beobachten, wie sie wieder und wieder zurück in die Spur kommen, ihre Kräfte wieder spüren und ihre Möglichkeiten erkennen. Und es gibt Lebenswege, da ist die Psychotherapeutin selbst an ihren Grenzen angekommen. Da will sie auch mal einfach nur reden. Das tue ich nun.
Manchmal kommt es knüppeldick. Ein Mensch hat schwere Erkrankungen durchgestanden, eine chronische Erkrankung aber blieb und wird bleiben. Der Lebenspartner starb nach langer schwerer Krankheit. Die Eltern sind altersbedingt selbst hilfsbedürftig. Die finanzielle Situation ist schwierig. Die erwachsenen Kinder haben viel geholfen, helfen noch, sind auf dem Rückzug, sehen sich überfordert.
Der chronisch kranke Mensch muss nun ohne den Führerschein auskommen. Die Medikamente und die Krankheit verhindern die Fahrtüchtigkeit. Nach einem Krankenhausaufenthalt war die Rückkehr ins Zuhause nicht mehr möglich. Der kranke Mensch hatte auch schon mal die Herdplatte nicht ausgestellt, hatte auch Angst allein im Haus. Nun stand eine schnelle Entscheidung an. Der kranke Mensch ist verzweifelt, denn die Entscheidung erscheint nun falsch. Die Kraft fehlt, neu zu suchen.
Die Einrichtung für betreutes Wohnen warb mit Geschäften in unmittelbarer Nähe. Es gibt: einen Bäcker. Ärzte: ein Zahnarzt, das war’s. Der Bus in die Nachbarstadt fährt einmal die Stunde, das auch nur zu bestimmten Zeiten. Die U-Bahn am Stadtrand fährt fast durchgehend nur alle 20 Minuten.
Der kranke Mensch hat seine Mobilität verloren. Da war immer Freude darüber, dass trotz Erkrankung noch so viel ging. Aus, vorbei. Ein Leben, gefühlt wie im Niemandsland.
Der kranke Mensch hat seine Kontakte verloren, die hilfsbereiten Nachbarn leben entfernt, die Kinder sind auf dem Rückzug. Die sogenannte betreute WG… Man sieht sich mal beim Frühstück… Viel scheint da nicht zu laufen. Kein Wegetraining, keine gemeinsame Sichtung der zusätzlichen Möglichkeiten. Keine gemeinschaftlichen Aktivitäten.
Es wurde in der Presse damit geworben, dass man eine fitte WG anstrebe. Warum nimmt man dann einen Menschen auf, der Hilfe braucht? Das Geld wird gern genommen. (Bevor jemand auf die Barrikaden geht: Ich weiß, dass es gute Einrichtungen gibt! Die Plätze sind begehrt…)
Der kranke Mensch muss sich um die Tablettengabe streiten und sieht sich entwürdigt, wie nicht zurechnungsfähig angesehen.
Es muss das Einkaufen abgenommen werden, weil die Mobilität wegfiel. Immer Taxi ist nicht drin. Es muss genommen werden, was die Hilfskraft entschied. Der kranke Mensch sieht sich als nicht mehr handlungsfähig.
Der kranke Mensch sieht sich als eingesperrter Mensch ohne Ausweg. Da ist keine Möglichkeit zur Aktivität, da geht man halt ins Bett, was solls.
Die Therapeutin kann ein wenig trösten und ermuntern. Sie kann auch Ratschläge zur Lebensbewältigung geben, auch wenn das nicht ihre eigentliche Profession ist.
Die Therapeutin ist mit zornig und mit traurig, sie verlässt die Ebene der professionellen Distanz.
Der kranke Mensch droht in eine Depression zu fallen. Da war der ärztliche Rat, Medikamente zu nehmen, wohlfeil parat.
Der Ehepartner starb vor wenigen Monaten. Die Trauer findet kaum Raum inmitten all der anderen Verzweiflung.
Die Therapeutin ist froh, dass sie von all dem Kenntnis erhielt, der kranke Mensch kämpft noch. Die Therapeutin schaut hilflos auf ihre eigenen Grenzen.